Interview

»Es war ganz, ganz knapp«

Frau Pletoukhina, Sie waren in der Synagoge von Halle, als der Täter versuchte, dort ein Blutbad anzurichten. Wie haben Sie die Situation erlebt?
Wir waren schon ab morgens in der Synagoge, es war eigentlich ein sehr schöner Tag, gutes Wetter, Sonnenschein. Gegen zwölf Uhr, als das Gebet zu Jom Kippur begonnen hatte, hörten wir einen lauten Knall. Wir dachten zuerst, dass draußen ein Feuerwerk gezündet wird, dann kam aber auch schon der Sicherheitsmann der Gemeinde und sagte: »Draußen steht ein bewaffneter Mann und versucht reinzukommen. Er schießt auf unsere Tür.«

Wie ging es dann weiter?
Wir waren erst einmal maximal geschockt und fassungslos, konnten eigentlich gar nicht wirklich reagieren. Der Sicherheitsmann hat dann sofort die Polizei gerufen. Wir Beter sind nach oben gerannt, in die Küche der Gemeinde, und haben uns dort versteckt. Alles in allem waren wir mehr als 50 Menschen. Dann hörten wir immer wieder laute Schüsse, der Sicherheitsmann verfolgte alles über die Sicherheitskamera und hielt uns auf dem Laufenden. Er und mehrere andere Männer, darunter mein Mann, haben dann die Eingangstür mit Stühlen, Tischen und anderen Gegenständen verbarrikadiert, für den Fall, dass der Täter die Tür überwindet.

Gab es keinen Polizeischutz?
Nein, den gab es nicht – und das ist in meinen Augen wirklich ein Skandal. Die Gemeinde hat in der Vergangenheit immer wieder bei der Polizei darauf hingewiesen, dass die Beter Schutz brauchen. Die Antwort war jedes Mal nur: Es liegt keine akute Bedrohung vor. Hinzu kommt: Unser Sicherheitsmann ist kein ausgebildeter Sicherheitsmann, sondern ein einfaches Gemeindemitglied, das sich bereit erklärt hat, die Synagoge so gut zu schützen, wie er es eben als Laie kann.

Haben Sie und die anderen Beter mit dem Gedanken gespielt, die Synagoge durch einen Fluchtweg zu verlassen?
Das war nicht möglich, weil es insgesamt nur drei Türen nach draußen gibt. Die Gemeinde ist sehr, sehr klein. Und über die Kameras haben wir gesehen, dass er die Türen mit Sprengstoff oder anderen Materialien präpariert hatte. Es gab nur die Möglichkeit, uns in den Räumen zu verstecken und die Tür zu versperren, so gut es eben ging. Wir hatten unfassbare Angst. Die Tür besteht aus Holz und ist nicht extra gesichert gewesen, wie man es etwa aus den Gemeinden in München, Frankfurt oder Berlin kennt. Zudem waren wir unbewaffnet. Nur durch Glück und Zufall ist nicht noch Schlimmeres passiert.

Viele der anderen Beter in der Synagoge haben nach dem Anschlag von einem Wunder gesprochen, dass sie überlebt haben. Wie sehen Sie das?
Es war wirklich ein Wunder. Es war ganz, ganz knapp. Die Fenster sind aus normalem Glas, der Täter hätte nur hineinschießen müssen, schon wäre er drinnen gewesen und hätte ein Blutbad angerichtet. Zudem hat der Täter Molotowcocktails und, glaube ich, auch eine Handgranate über die Mauer auf uns geworfen. Wir können einfach nur von Glück reden, dass die nicht gezündet haben und die Sukka im Hof nicht Feuer gefangen hat. Denn die Polizei hat zwischen 15 und 20 Minuten gebraucht, um zu uns in die Synagoge zu kommen und uns zu schützen.

20 Minuten?
Ja, es war die längste Zeit überhaupt für uns. Die Polizei hat das hinterher damit begründet, dass bei ihr so viele Anrufe eingingen, dass sie sich erst einmal sortieren und die Anrufe priorisieren mussten, weil halb Halle bei ihr anrief. Währenddessen haben wir auf dem Monitor gesehen, dass der Täter erst einmal von uns abgelassen hat, weil eine Frau ihn ansprach. Was gesprochen wurde, weiß ich nicht. Aber als sie ihm den Rücken zudrehte, schoss er ihr in den Rücken. Dann ging er nochmal zur Leiche hin und schoss weitere Male auf sie. Es ist entsetzlich. Ich habe dafür keine Worte.

Wie hat die Polizei reagiert, als sie bei Ihnen in der Synagoge eintraf?
Professionell, freundlich und rücksichtsvoll. Es war ja noch Jom Kippur, und wir mussten noch fünf Stunden aus Sicherheitsgründen in der Synagoge bleiben. Sie haben mit uns gesprochen, uns vernommen, die Synagoge sehr gründlich untersucht, weil sie Angst hatten, dass sich irgendwo Sprengstoff befindet. Zwischendurch haben wir, wenn es die Situation zugelassen hat, weiter gebetet. Gegen 17 Uhr wurden wir alle mit einem Bus, in Begleitung von zehn Polizeiwagen, ins Krankenhaus gebracht. Dort wurden wir untersucht, wurden weiter vernommen, haben gebetet und irgendwann dann auch das Schofar geblasen. Es war eine Ausnahmesituation mit vielen – so seltsam es sich anhört – auch positiven Erlebnissen.

Inwiefern?
Im Krankenhaus hatten die Mitarbeiter und die Polizei vollstes Verständnis dafür, dass wir zwischendurch wegen der Gebete unterbrechen mussten. Die Polizisten wussten, dass wir dann nach über 25 Stunden das Fasten brechen würden – und haben uns Bierkästen und Wasser besorgt, wir haben dann auch angestoßen, ohne die Polizisten. Wir haben getrauert um die zwei Toten, und wir trauern immer noch. Im Bus auf der Fahrt ins Hotel – das mag sich vielleicht befremdlich anhören – haben wir dann aber auch gefeiert: das Leben, unser Überleben, das jüdische Volk, Am Israel Chai!

Wie blicken Sie jetzt, mit etwas Abstand, auf das Erlebte zurück?
Halle hat alles verändert. Es gibt ein Vorher und ein Nachher. Andererseits habe ich den Eindruck, dass es schon ewig her ist. Ein seltsames Gefühl.

Wie geht es den anderen Betern?
Jeder geht anders damit um. Wir sprechen fast jeden Tag darüber. Es ist auch ein bisschen eine Frage der Generation, wie man das verarbeitet. Viele der Älteren haben die nicht ganz so einfache Sowjetzeit erlebt, und mir scheint, dass die Beter das etwas besser verarbeiten. Die Jüngeren hingegen sind offener für psychologische Hilfe. Es gab von außen auch Angebote, das haben die Jüngeren auch gern angenommen.

In einem Interview nach dem Anschlag haben Sie gesagt, dass Ihr Vertrauen in den Staat ein Stück weit geschwunden ist. Wie meinen Sie das?
Ich verstehe nicht, warum es so lange gedauert hat, bis die Polizei vor Ort war. Der Täter hatte leichtes Spiel. Ich verstehe auch nicht, warum die Politik trotz mehrfacher Bitten der Jüdischen Gemeinde den Schutz verweigert hat. Das macht mich richtig wütend. Der Anschlag hätte leicht gestoppt werden können. Was mich auch geärgert hat: die ritualisierten »Nie wieder«-Bekenntnisse nach dem Anschlag. Wer »Nie wieder!« sagt, der muss auch danach handeln.

Was fordern Sie?
Zuallererst müssen die Menschen in den Synagogen und anderen jüdischen Einrichtungen angemessen geschützt werden. Zum anderen sind Bildungs- und Präven-tionsprojekte extrem wichtig, und das kostet natürlich auch Geld, das aber leider zunehmend gekürzt wird. Die Medien spielen auch eine Rolle: Solange wir Juden als die Fremden porträtiert werden, gehören wir nicht dazu. Wir gehören aber natürlich dazu. Wir sind deutsche Juden, es war deshalb auch ein Anschlag auf Deutschland.

In einem anderen Interview haben Sie gesagt, dass Ihre Familie Sie darum gebeten hat, erst einmal nicht zum Gottesdienst in die Synagoge zu gehen. Was haben Sie geantwortet?
Ja, das war meine liebe Tante. Sie macht sich natürlich Sorgen um mich und meinen Mann. Aber wir lassen uns von einem verrückten Attentäter nicht vorschreiben, wie wir unser Judentum leben. Wir werden weiter in die Synagoge gehen. Wir planen, demnächst auch noch einmal zum Gottesdienst nach Halle zu fahren. Wir lassen uns nicht unterkriegen. Jetzt erst recht.

Das Interview führte Philipp Peyman Engel.

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