Ringvorlesung

»Erzählt es euren Kindern«

Der Gründungsdirektor des Centrum Judaicum bei seinem Eröffnungsvortrag im April Foto: Rolf Walter

Die Wahl des Ortes war kein Zufall. Wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag kehrte der Historiker Hermann Simon an jene Institution zurück, die zeitlebens für ihn Bedeutung hatte – die Berliner Humboldt-Universität, die ihn nun mit einer Ringvorlesung ehrt. Schon als Kind war ihm die Uni vertraut, an der seine Eltern als Professoren forschten und lehrten. Später studierte er selbst an der Adresse Unter den Linden Geschichte und Orientalistik, auch seine Schwester war hier Studentin, ebenso wie auch seine Frau Deborah. 1975 erfolgte dann die Promo
tion.

Sabine Kunst, die HU-Präsidentin, rückte in ihrer Grußansprache vor allem das ureigene Lebenswerk Hermann Simons in den Mittelpunkt: die neue Synagoge Oranienburger Straße und das Centrum Judaicum. Hier war er 28 Jahre lang ein umtriebiger und kreativer Direktor. Anja Siegemund, seine Nachfolgerin, hat sich nun gemeinsam mit Michael Wildt von der Philosophischen Fakultät eine besondere Hommage einfallen lassen – eine für jedermann offene Ringvorlesung.

In Hermann Simons Eröffnungsvortrag ging es um eine »sorbisch-katholische Jüdin«.

FORSCHUNG Bis Anfang Juli werden im wöchentlichen Turnus sowohl Experten als auch Nachwuchswissenschaftler zur jüdischen Geschichte Berlins sprechen. Zunächst aber war der Jubilar selbst um eine Vorlesung gebeten worden, und dieser Bitte kam Hermann Simon, wie er erklärte, gerne nach.

Ganz im Stil der »Jüdischen Miniaturen«, einer von ihm herausgegebenen Schriftenreihe, stellte er detailreich das kurze Leben einer bislang unbekannten jüdischen Persönlichkeit vor. Der Titel des Vortrages bezeichnet sie als »sorbisch-katholische Jüdin«, und im übervollen Senatssaal erklärt Hermann Simon, was darunter zu verstehen ist.

Begonnen hatte es damit, dass er vor einigen Jahren darüber geforscht hatte, wie sich die sorbische Minderheit in der Lausitz einst gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern verhielt. Es habe Fälle von Kollaboration gegeben, ein Fakt, der dort bis heute ein Tabu sei. Sorbische Familien aber hätten in der Zeit der Schoa durchaus auch Juden geholfen, wofür Victor Klemperer ein prominentes Beispiel sei.

Die Vortragsreihe zur Berliner jüdischen Geschichte läuft bis Juli.

Bislang weniger bekannt ist die Geschichte von jenem Mädchen Annemarie, das im Jahr 1918 als uneheliche Tochter der Jüdin Gertrude Kreidl zur Welt kam. Da die Mutter noch nicht volljährig und der Vater nicht mehr auffindbar war, entschloss sich Gertrude, das Kind in die Obhut des sorbischen Geschwisterpaares Schierz zu geben.

Das Kind wurde schließlich adoptiert, katholisch getauft und erzogen. In der Tracht der sorbischen Landbevölkerung fiel es nicht weiter auf. Das jüdische Mädchen war eine von ihnen, und selbst als Georg Schierz am 1. Mai 1933 in die NSDAP eintrat, behandelte er Annemarie wie die eigene Tochter. Im Jahr 1934 wählte das Mädchen in der katholischen Dorfkirche für sich den Firmnamen Esther.

Zu diesem Zeitpunkt war es nicht-jüdischen Deutschen bereits untersagt, ihren Töchtern diesen Namen zu geben. Hermann Simon wertet die Entscheidung des Mädchens daher als klares Bekenntnis zu seiner jüdischen Herkunft. Und der katholische Gemeindepfarrer von Horka trug den Namen der biblischen Königin in die Firmungsurkunde ein. Später würde er das Mädchen als Servierkraft in der Gaststätte seiner Großeltern unterbringen, was sie letztlich aber nicht vor der Deportation schützen konnte.

Mit der Beharrlichkeit des Historikers versuchte Hermann Simon herauszufinden, wie man die jüdische Identität der jungen Frau herausgefunden hat. War es das Ergebnis einer Volkszählung, oder war Denunziation im Spiel? Denkbar ist beides. Jedenfalls musste Annemarie Schierz sich ab 1941 regelmäßig bei der Gestapo in Dresden melden. Am 26. August 1942 verliert sich ihre Spur.

Die Ringvorlesung richtet sich auch an Menschen, die sonst wenig mit deutsch-jüdischer Geschichte in Kontakt kommen.

THEMEN In der »Ringvorlesung zur jüdischen Geschichte Berlins« wird es nun wöchentlich am Dienstagnachmittag moderierte Vorträge geben. Dabei reicht die Themenvielfalt von den »Berliner jüdischen Salons um 1800« bis zu »Antisemitischen Tönen in der Humboldt-Universität im Jahre 1969«. Anne-Christin Saß vom Osteuropa-Institut der Freien Universität gilt als ausgewiesene Expertin der Migration osteuropäisch-jüdischer Emigranten im Berlin der Weimarer Republik. Ihre Vorlesung mit dem Titel »Von Außenseitern, Insidern und Luftmenschen – Zugänge zur jüdischen Geschichte im Weimarer Berlin« verspricht einer der Höhepunkte der Vortragsreihe zu werden.

Der Politologe Akim Jah hat bereits mehrere Veröffentlichungen über die jüdischen Schicksale zwischen Emigration und Deportation veröffentlicht. Hier referiert er speziell über die »Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Berlin«, und Rabbiner Andreas Nachama wird über etwas sprechen, was er als Kind und Jugendlicher selbst erlebt hat, nämlich über die Reorganisation des Berliner Gemeindelebens nach der Befreiung.

Ein breites Themenfeld also steht bis Juli auf dem Programm. Anja Siegemund erklärt, an wen sich die dreimonatige Veranstaltung richtet: »Diese Ringvorlesung findet ja weitgehend im universitären Rahmen statt und richtet sich daher quasi automatisch an ein eher bildungsbürgerliches Publikum – gerne auch an Studierende, die sonst wenig mit deutsch-jüdischer Geschichte in Kontakt kommen. Und natürlich sehr gerne an alle, die sich einfach interessieren.«

Auf die Frage, ob eine solche wissenschaftliche Vortragsreihe auch dem zunehmenden Antisemitismus etwas entgegensetzen könne, antwortet Anja Siegemund pragmatisch: »Historische Forschung hilft zunächst einmal, Wissen zu generieren, dies zumeist bei einer kleinen Zielgruppe. Ihre Vermittlung hilft dann hoffentlich, bei einer schon größeren Zielgruppe ebenso Wissen zu generieren, aber auch Relevanz zu erkennen, Kontexte herzustellen, Werte zu überprüfen oder zu festigen, Empathie zu entwickeln.«

Und Hermann Simon, dem diese Ringvorlesung gewidmet ist, erklärte dies mit einem Zitat des Propheten Joel zu einem biblischen Gebot: »Davon erzählet euren Kindern, und eure Kinder ihren Kindern, und ihre Kinder dem nachkommenden Geschlecht.«

Die Vorlesungen finden bis 2. Juli dienstags 16 bis 18 Uhr an der Humboldt-Universität, Weierstraß-Hörsaal (Raum 3038) statt.

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