Geschichte

Eine gesellschaftliche Pflicht

Bei der Diskussion im Jüdischen Gemeindezentrum: Alt-OB Christian Ude, IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch und Autor Rafael Seligmann (v.l.) Foto: Marina Maisel

Rafael Seligmann hat einen neuen Roman geschrieben. Er trägt den Titel Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge und handelt von der Kindheit und Jugend seines Vaters Ludwig. Vor Kurzem stellte ihn der Autor im Gespräch mit Alt-Oberbürgermeister Christian Ude im Jüdischen Gemeindezentrum in München vor.

Ude kommt es vor wie Seligmanns »persönlichstes Buch«, obwohl er 2010 doch am gleichen Ort schon seine Autobiografie vorgestellt hatte, die mit einem Zitat seines 1957 aus Israel zurückgekehrten Vaters überschrieben war: »Deutschland wird dir gefallen«. Wie die Geschichte des Vaters zu der seiner Ansicht nach »persönlichsten« werden konnte, lotete Ude ebenso belesen wie einfühlsam aus. Bevor er ins Detail ging, schickte er der Diskussion ein Resümee seines Leseeindrucks voraus. Das Buch sei faszinierend, bewegend und überraschend.

ichenhausen »Frisch gekämmt und neu eingekleidet stand ich mit meinem Bruder Heinrich auf dem Perron des Günzburger Bahnhofs, wir warteten an Mutters Seite auf Vater.« Als Feldwebelleutnant Isaak Raphael Seligmann eintrifft, geht es mit der Kutsche ins heimische Ichenhausen. Es ist Dezember 1914.

Die Erzählung in Ich-Form und damit der Generationensprung in die Vergangenheit verwehren die Klassifizierung als Biografie.

Rafael Seligmann versetzt sich in die Situation seines Vaters und beschreibt das Leben der größten jüdischen Landgemeinde im süddeutschen Raum zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dessen Perspektive. Die Erzählung in Ich-Form und damit der Generationensprung in die Vergangenheit verwehren die Klassifizierung als Biografie, obwohl Rafael Seligmann auf Aufzeichnungen seines Vaters zurückgreifen konnte.
Allein der Großvater scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben.

Von Ude befragt, charakterisierte Seligmann seinen Vater »als großen Optimisten«, der erst in den letzten Lebensjahren nachdenklicher wurde. Die Anregung »Schreib dein Leben auf!« nahm Seligmann senior jedenfalls ernst. Seine Aufzeichnungen über das Alltagsleben großenteils einfacher Landjuden müssen sehr anschaulich ausgefallen sein, seine sinnliche Beschreibung des Synagogen-Himmels, der Kleidung der Frauen, der Speisen, gaben dem Sohn die Inspiration, ein detailliertes Zeitgemälde zu entwerfen.

Dass er als Politologe die historischen Zusammenhänge kennt, als allwissender Erzähler über den Holocaust Bescheid weiß, »eine Katastrophe«, von der seine Vorfahren und die Zeitgenossen nichts ahnen konnten, verleiht dem Text eine faktengesättigte Authentizität und eine in manchen Momenten nahezu schwer erträgliche Spannung.

elternhaus Da wachsen zwei Jungen nebst kleiner Schwester in einem traditionellen jüdischen Elternhaus auf. Ludwig Yehuda (1907–1975) ist gut im Rechnen und Singen, noch besser aber im Dribbeln auf dem Fußballfeld. Wegen der Geldknappheit schickt man nur ihn aufs Gymnasium, sein älterer Bruder Heinrich (1905–1990) muss Metzger werden – weiteres Futter, um im Bild zu bleiben, für Rivalität zwischen den Geschwistern.

Während in der großen Welt der Erste Weltkrieg tobt, aus dem Isaak Raphael Seligmann unverletzt, doch verbittert zurückkehrt, weil – als Nachwehe der antisemitischen Judenzählung von 1916 – um seinen militärischen Aufstieg betrogen, während in Berlin und München Revolutionen ausbrechen, während die Weimarer Jahre die Hoffnung auf demokratische Verhältnisse nähren und Hitler seinen Aufstieg plant, nimmt das Leben in Ichenhausen seinen beschaulichen Lauf.

Man begeht in dieser »stockkonservativen Gemeinde« mit etwa 800 Mitgliedern, wie der Autor Rafael Seligmann resümiert, die Feiertage und Familienfeste, versucht, sein Auskommen im Umgang mit den Bauern und Kleinstädtern zu finden – finanziell wie sozial. Und man missachtet die dunklen Wolken am Horizont.

Allein der Großvater, nach dem Seligmann benannt wurde, scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben und ließ sich nicht vom gemütlichen bayerischen Provinzleben und dem sympathischen Umgang mit seinen Nachbarn die Sinne vernebeln. Als die Gemeinde 1934 noch eine neue Aussegnungshalle am jüdischen Friedhof errichtet, hält er dies für eine verrückte Idee. Als Einziger betreibt er 1938 die Auswanderung nach Palästina für seine Familie.

Allein der Großvater, nach dem Seligmann benannt wurde, scheint die Zeichen der Zeit erkannt zu haben.

seismograf Ude fragte Seligmann, ob er das »Landjudentum«, das von Ichenhausen aus gesehen schon Kempten und Memmingen für Metropolen hielt, für erledigt halte. »Wenn Juden sich an einem bestimmen Ort wohlfühlen, dann ist alles möglich«, antwortete Seligmann und fügte hinzu: Juden seien »eher der Seismograf« für gesellschaftliche Umbrüche.

Mit Blick auf die Zahlen von damals – 1932 kam die NSDAP auf 18 Prozent – und die Ergebnisse der AfD in Sachsen heute spricht Seligmann von der »Pflicht der Gesellschaft« zum Handeln. Er halte die AfD für »brandgefährlich, weil sie den demokratischen Konsens gefährdet«.
Darin ist er sich ganz einig mit Charlotte Knobloch, der Präsidentin der Israe­litischen Kultusgemeinde München und Oberbayern. Sie freute sich auf den Abend mit dem Autor Rafael Seligmann und seinem Gesprächspartner Christian Ude, dessen tatkräftiger und langjähriger Unterstützung das Jüdische Zentrum zu verdanken sei.

Charlotte Knobloch sagte, die Gemeinde sei in das Herz der Stadt und die Mitte der Gesellschaft zurückgekehrt, und fügte hinzu: »Andererseits ist sie heute mehr denn je durch einen neuen alten Judenhass gefährdet. Historische Einzelschicksale wie das von Ludwig Seligmann zeigen uns dabei bis heute auf, wie jüdisches Leben in unserem Land einst aussah und wie es schließlich vertrieben oder fast ausgelöscht wurde. Und sie verweisen darauf, was in der Zeit seitdem wieder geleistet und aufgebaut wurde – und was es zu bewahren gilt.«

Rafael Seligmann: »Lauf, Ludwig, lauf! Eine Jugend zwischen Fußball und Synagoge«. Langen Müller, Stuttgart 2019, 335 S., 24 €

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025

Vertrag

Jüdische Gemeinde Frankfurt erhält mehr Gelder

Die Zuwendungen durch die Mainmetropole sollen bis 2031 auf 8,2 Millionen Euro steigen

von Ralf Balke  11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Hannover

Ministerium erinnert an 1938 zerstörte Synagoge

Die 1938 zerstörte Neue Synagoge war einst mit 1.100 Plätzen das Zentrum des jüdischen Lebens in Hannover. Heute befindet sich an dem Ort das niedersächsische Wissenschaftsministerium, das nun mit Stelen an die Geschichte des Ortes erinnert

 10.11.2025

Chidon Hatanach

»Wie schreibt man noch mal ›Kikayon‹?«

Keren Lisowski hat die deutsche Runde des Bibelquiz gewonnen. Jetzt träumt sie vom Finale in Israel

von Mascha Malburg  10.11.2025

München

Gelebte Verbundenheit

Jugendliche engagieren sich im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes in den Einrichtungen der Israelitischen Kultusgemeinde

von Esther Martel  09.11.2025

Sport

»Die Welt spielt gerade verrückt«

Alon Meyer über seine Wiederwahl zum Makkabi-Präsidenten in ganz besonderen Zeiten, den enormen Mitgliederzuwachs und die Zukunft des jüdischen Sportvereins

von Helmut Kuhn  09.11.2025

Erlangen

Bald ein eigenes Zuhause

Nach jahrzehntelanger Suche erhält die Jüdische Kultusgemeinde ein Grundstück für den Bau einer Synagoge

von Christine Schmitt  09.11.2025

Erinnerung

Den alten und den neuen Nazis ein Schnippchen schlagen: Virtuelle Rundgänge durch Synagogen

Von den Nazis zerstörte Synagogen virtuell zum Leben erwecken, das ist ein Ziel von Marc Grellert. Eine Internetseite zeigt zum 9. November mehr als 40 zerstörte jüdische Gotteshäuser in alter Schönheit

von Christoph Arens  09.11.2025