Trauer

»Eine Berlinerin bleibe ich immer«

Kämpferisch, wehrhaft und voller Humor: Inge Deutschkron sel. A. (1922–2022) Foto: Marco Limberg

»Wir haben eine kämpferische Freundin verloren«, sagt André Schmitz, Vorstandsmitglied der Inge Deutschkron Stiftung und ehemaliger Chef der Berliner Staatskanzlei und Kulturstaatssekretär, über die Schoa-Überlebende, die am Mittwoch in den Morgenstunden friedlich in Berlin eingeschlafen ist. Im August wäre die Zeitzeugin, Ehrenbürgerin Berlins und Schriftstellerin 100 Jahre alt geworden.

Ihr Geburtstag war ihr immer sehr wichtig, denn an diesem Tag feierte sie jedes Jahr ihr Überleben. »Ich sage immer, das ist der Tag meines Triumphes. Ich lebe, und ›er‹, der mich töten wollte, nicht.« Von einem Versteck aus habe sie während der Schoa beobachtet, wie die Menschen von der Gestapo aus den Häusern herausgeholt wurden und auf Wagen steigen mussten, sagte sie bei ihrer Gedenkrede am 30. Januar 2013 im Bundestag.

schuld »Des Nachts sah ich sie wieder vor mir, hörte nicht auf, an sie zu denken: Wo waren sie jetzt? Was tat man ihnen an? Ich begann, mich schuldig zu fühlen. Mit welchem Recht, so fragte ich mich, verstecke ich mich, drückte ich mich vor einem Schicksal, das auch das meine hätte sein müssen?« Dieses Gefühl von Schuld verfolgte sie, es ließ sie nie wieder los. Ihr Leben lang hat sie für die lückenlose Wahrheit, für das Recht und gegen Antisemitismus gekämpft.

»Sie hatte 1000 Ideen und gab nie auf.«

André Schmitz

»Die Erinnerungskultur zu gestalten, war ihre Lebensaufgabe«, sagt Schmitz. Neben der Politik habe sie sich für Gerechtigkeit interessiert. Und ihr Tatendrang war bis ins hohe Alter kaum zu stoppen. Als sie vor einigen Jahren erfuhr, dass ein Denkmal beschmiert worden war, habe sie André Schmitz ganz früh am Morgen angerufen. »Wir müssen etwas tun, hat sie gesagt«, erinnert er sich. »Es war mit ihr nie langweilig, denn sie hatte 1000 Ideen und Pläne und gab nie auf.«

gedenken Ein paar Jahre zuvor hatte sie Schmitz mitgeteilt, dass sich der Beginn der Deportationen der Berliner Juden nun zum 70. Mal im Grunewald vom Gleis 17 jährt – seitdem findet an diesem Datum immer eine Gedenkveranstaltung statt.

Ein Herzensanliegen war ihr auch, dass der Otto-Weidt-Platz in der »Europa City« am Hauptbahnhof den Namen des einstigen Besitzers der Blindenwerkstatt erhält, obwohl in Berlin nur noch Frauennamen für Plätze erwünscht sind. »Da war sie bei der Einweihung noch dabei«, erinnert sich André Schmitz. Das dürfte einer ihrer letzten öffentlichen Auftritte gewesen sein.

Aber sie bewirkte noch viel mehr in ihrem langen Leben. Mit dem autobiografischen Buch Ich trug den gelben Stern erreichte sie mit 27 Auflagen allein in Deutschland Millionen Leser. Das Berliner Grips Theater brachte ihr Leben unter dem Titel Ab heute heißt du Sara auf die Bühne. Wer Inge Deutschkron in ihrer Wohnung in Charlottenburg besuchte, musste sich ihr Arbeitszimmer anschauen mitsamt den vielen Briefen, die ihr zig Kinder geschrieben haben. »Das war ihr so wichtig, dass sie alle beantwortet hat. Und sie setzte große Hoffnungen in die nächsten Generationen«, erzählt Schmitz.

verdienstorden Er kann sich noch genau an den Moment erinnern, als er die Schoa-Überlebende das erste Mal traf. »Ich war gerade ein paar Wochen Chef der Berliner Senatskanzlei, als ich sie überreden sollte, den Verdienstorden anzunehmen.« Bis dahin hatte sie mehrere Auszeichnungen – darunter das Bundesverdienstkreuz – ausgeschlagen. Und dieses Treffen war der Beginn einer langen Freundschaft.

Sie gab ihm zu verstehen, dass sie sich nicht als Deutsche fühle, aber »eine Berlinerin bleibe ich immer, denn Berliner haben meine Mutter und mich versteckt, sodass wir leben konnten. Das Berlinerische ist die einzige Sprache, in der ich mich verständigen kann«, sagte sie mit ihrer dunklen Stimme bei der Feier im Roten Rathaus, als sie die Ehrenbürgerschaft 2018 verliehen bekam. Den Verdienstorden des Landes Berlin hatte sie 2002 entgegengenommen.

Als junge Frau arbeitete sie in der Blindenwerkstatt von Otto Weidt.

Inge Deutschkron wurde am 23. August 1922 in Finsterwalde geboren. Als Kind zog sie mit ihren Eltern nach Berlin. Erst als Zehnjährige erfuhr sie, dass sie Jüdin ist. »Lass dir nichts gefallen, wehr dich!«, gab ihr die Mutter mit auf den Weg, so berichtete sie es in der Gedenkrede im Bundestag. Ihr Kampfgeist half ihr, der Zwangsarbeit bei IG Farben zu entkommen und in der Bürsten- und Besenwerkstatt von Otto Weidt einen Platz zu finden. Sie und ihre Mutter überlebten in zehn verschiedenen Verstecken in Berlin, während der Vater noch rechtzeitig nach England emigrieren konnte.

Auswanderung Nach dem Krieg arbeitete sie als Sekretärin in der Zentralverwaltung für Volksbildung in der sowjetisch besetzten Zone, bis sie mit ihrer Mutter ebenfalls nach England ausreiste. 1955 kehrte sie nach Deutschland zurück und traf »auf eine Bevölkerung, die zur Auseinandersetzung mit der jüngsten Geschichte nicht bereit war«, heißt es bei der Inge Deutschkron Stiftung.

Als Korrespondentin für die israelische Zeitung »Maariw« begleitete sie ab 1963 die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt. 1972 verließ sie die Bundesrepublik aus Protest gegen anti-israelische Tendenzen und ging nach Israel, arbeitete weiter für die Zeitung und schrieb ihre Lebenserinnerungen auf. Sie pendelte zwischen den Ländern, bis sie sich entschloss, doch wieder in Berlin zu bleiben, und stürzte sich mit viel Kraft auf die Ehrung der sogenannten Helden in Deutschland.

2006 gründete sie die nach ihr benannte Stiftung, die zu Toleranz und Zivilcourage ermutigen soll. »Ohne ihr Wirken gebe es den einzig authentischen Ort in Deutschland nicht, der an die sogenannten stillen Helden erinnert, die Gedenkstätte Otto Weidt«, meint Schmitz. Heute ist diese ein Teil der »Gedenkstätte Deutscher Widerstand«. Unvergessen ist auch ihre bewegende Rede im Deutschen Bundestag aus Anlass der Gedenkstunde zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus 2013.

»Sie hatte eigentlich zwei Traumata«, sagt Schmitz. Einmal natürlich das Verstecktsein während der Schoa, aber auch in der Nachkriegszeit habe sie schlechte Erfahrungen gemacht. Beispielsweise, als sie den deutschen Pass in Bonn beantragen wollte. Da bestand der Behördenmitarbeiter darauf, »Sarah Inge Deutschkron« als Namen einzutragen.

Humor Trotz ihres Schicksals hatte sie Humor. Ferner habe sie politisch immer links gestanden. Das ging so weit, dass am 1. Mai alle Freunde antanzten mussten, um gemeinsam Arbeiterlieder zu singen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte Deutschkrons Einsatz dafür, dass »wir die richtigen Lehren aus den Verbrechen während des Nationalsozialismus ziehen«. In einer Presseerklärung teilte er mit: »Trotz allem, was ihr von Deutschen angetan wurde, hat Inge Deutschkron sich nicht von Deutschland abgewandt.«

»Ihre Bereitschaft, nachfolgende Generationen an ihrem Schicksal teilhaben zu lassen, war beeindruckend. Mit ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit wird Inge Deutschkron uns immer ein Vorbild sein. Baruch Dayan HaEmet«, erklärte der Zentralrat der Juden in Deutschland.

Verpflichtung Inge Deutschkron hinterlässt uns als ihr Vermächtnis die historische, gesellschaftliche und politische Pflicht, niemals zu vergessen, was ihr, ihrer Familie und Millionen europäischer Jüdinnen und Juden angetan wurde«, erklärte Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD). Das Internationale Auschwitz Komitee würdigte Deutschkron als eine »Autorität der Menschlichkeit und der Erinnerung«.

»Ihre Fähigkeit und ihr Wille, immer wieder ihre Geschichte und die Geschichte der Verfolgung so vieler jüdischer Menschen in der Nazizeit zu erzählen und an die zu erinnern, die diesen Menschen in ihrer Not geholfen hatten, beeindruckte Generationen von jungen Menschen zutiefst«, betonte Christoph Heubner, Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees.

»Mit ihr haben wir eine bedeutende jüdische Zeitzeugin des nationalsozialistischen Terrors in unserer Stadt verloren«, schrieb das Berliner Abgeordnetenhaus. »Sie war eine nachdrückliche Verteidigerin demokratischer Werte«, sagt Abgeordnetenhaus-Präsident Dennis Buchner (SPD) über Deutschkron. »Wer ihr persönlich begegnen durfte, wird das nie vergessen. Wir trauern um eine starke Berlinerin.«

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024