Bremen

Ein Leben für Werder

Es gibt Fotos, auf denen Alfred Ries zu sehen ist, wie er mit dem Fußballbundestrainer Sepp Herberger diskutiert oder mit der Stürmerlegende Fritz Walter gemeinsam lacht. Andere Dokumente zeigen ihn als deutschen Diplomaten an der Seite von Bundespräsident Heinrich Lübke in Liberia oder mit Willy Brandt in Neu-Delhi. Queen Elizabeth II. empfängt er als elegant gekleideter Botschafter mit Handkuss.

Ursprünglich kam Ries aus Bremen. Vor seiner Zeit als Diplomat engagierte sich der Sohn einer alteingesessenen jüdischen Kaufmannsfamilie in seiner Heimatstadt leidenschaftlich als Sportfunktionär. Schon als 15-Jähriger trat Ries dem Fußballverein Werder bei. Im Alter von 23 Jahren wurde der begeisterte Fußballer, Leichtathlet und Schwimmer sogar zum ehrenamtlichen Präsidenten des SV Werder gewählt.

Nach der Schoa kehrte der 1897 geborene Ries nach Bremen zurück und wirkte noch zwei weitere Male als Werder-Präsident. Ob im Sport, als Kaufmann im Dienste mehrerer großer Firmen oder in der Politik – Alfred Ries gestaltete in Bremen mit. Vor 1933 ebenso wie nach 1945. Während Ries’ letzter Amtszeit als Präsident gewann Werder 1965 sogar erstmalig die deutsche Fußballmeisterschaft.

Informationen Dennoch ist Alfred Ries in Bremen alles andere als eine Berühmtheit. »Ich war erstaunt, dass Ries vielen Bremern so lange unbekannt war«, sagt Thomas Hafke vom Fan-Projekt Bremen. Er selbst hatte den Namen zwar schon öfter gehört, doch über einen Großteil von Ries’ bewegter Biografie wusste er kaum etwas. Sehr vielen Werder-Fans ging es ähnlich. Im Vereinsmuseum fanden sich nur wenige Informationen, einen Wikipedia-Eintrag zu Alfred Ries oder öffentliches Erinnern gab es nicht, berichtet Hafke.

Dass im August 2017 eine Gedenkzeremonie anlässlich des 50. Todestages von Ries auf dem Jüdischen Friedhof Hastedt veranstaltet wurde, ist Hafkes Engagement zu verdanken. Zusammen mit neun weiteren Mitarbeitern hat der 54-jährige Sozialpädagoge eine kostenlose Informationsbroschüre zu Alfred Ries’ Biografie herausgegeben. »Dadurch können wir auch auf die jüdische Geschichte des Vereins aufmerksam machen, die ebenfalls vielen unbekannt ist.«

Bei der Gedenkzeremonie zu Ries’ Todestag legte Bürgerschaftspräsident Christian Weber einen Kranz nieder. Neben Elvira Noa, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde im Lande Bremen, und Landesrabbiner Netanel Teitelbaum kamen etwa 20 Gäste aus der Fanszene. Darüber hinaus fand Mitte Januar dieses Jahres eine gut besuchte Podiumsdiskussion unter anderem mit dem Werder-Aufsichtsratsvorsitzenden Marco Bode und dem profilierten Sporthistoriker Dietrich Schulze-Marmeling zur Erinnerung an Alfred Ries in der Bremer Bürgerschaft statt. Inzwischen wird Fan Thomas Hafke regelmäßig zu Vorträgen über Ries eingeladen.

Vor eineinhalb Jahren war Hafke von Vera Harms, einer pensionierten Ärztin, während einer Veranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft angesprochen worden. »Ich selbst kannte Ries zuvor auch nicht, und eigentlich bin ich auch gar kein großer Fußballfan«, sagt Vera Harms lächelnd. Doch bei den Besuchen des Grabes ihrer Eltern auf dem Jüdischen Friedhof in Hastedt war sie von ihrem sportbegeisterten Mann Dirk Harms auf die verwitterte Grabstelle des ehemaligen Werder-Präsidenten aufmerksam gemacht worden.

broschüre Nach dem ersten Kontakt mit Thomas Hafke fand sich schnell eine Gruppe für die Arbeit an der Broschüre zusammen. Vorarbeiten anderer Historiker existierten bereits, für weitere Recherchen werteten die Herausgeber Akten aus dem Archiv des Auswärtigen Amtes aus und führten Interviews mit Alfred Ries’ Witwe Hilde. In der bilderreichen Broschüre finden sich zahlreiche Fotos aus ihrer Privatsammlung.

Die 30-seitige Publikation porträtiert Alfred Ries mit einem Auge fürs Detail – und aus unterschiedlichen Blickwinkeln. »Dies war uns besonders wichtig, denn um Ries’ Biografie ranken sich diffamierende, sogar noch heutzutage wieder aufgewärmte Mythen«, sagt Vera Harms’ Ehemann Dirk. Dabei geht es vor allem um den jahrelangen Streit zwischen Ries und dem Bremer »Amt für Wiedergutmachung«. Ries wurde unterstellt, in Osteuropa mit den Nationalsozialisten kollaboriert zu haben. Er sei, so heißt es in den Akten, »für die Gestapo oder wenigstens doch für eine deutsche Stelle im Ausland tätig gewesen«.

Bereits am 7. Januar 1933, also drei Wochen vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler, wurde Alfred Ries vom Norddeutschen Sportverband und von SV Werder Bremen »verabschiedet«. In vorauseilendem Gehorsam hatte Werder einen regimetreuen »Vereinsführer« installiert und war schnell zum NS-Vorzeigeklub avanciert. In der »Bremer Kampfbahn« fanden nun auch Veranstaltungen mit Joseph Goebbels statt. 1934 schloss Werder den jüdischen Nachwuchsfußballer Leo Weinstein aus.

entlassung Kurz nach seiner Entlassung entschied sich Ries, Bremen zu verlassen und als Generalrepräsentant von Kaffee HAG nach München zu gehen. Für den Bremer Konzern, der den entkoffeinierten Kaffee erfand und als Pionier der Werbung in Deutschland gilt, war der ausgebildete Kaufmann seit Mitte der 20er-Jahre in verschiedenen höheren Positionen tätig.

Firmenchef Ludwig Roselius hielt trotz seiner Schwärmerei für den Nationalsozialismus seine schützende Hand über Ries. Doch auch in München geriet Ries unter Druck. Nach einem kurzen Aufenthalt für Kaffee HAG in Tschechien ließ er sich in HAGs jugoslawische Niederlassung versetzen. Anschließend übernahm er die Generalvertretungen einiger deutscher und ausländischer Firmen für Jugoslawien und Südosteuropa und wurde Direktor sowie Aufsichtsratsmitglied der neu gegründeten Optima AG in Zagreb.

Ries war bis zum Ende seines Exils auf finanzielle Unterstützung seines in die USA beziehungsweise nach Palästina emigrierten Bruders sowie der jüdischen Gemeinde in Zagreb angewiesen. Zu seiner Einkommenssituation in diesen Jahren machte Ries im »Wiedergutmachungsverfahren« unterschiedliche, bis zum Verfahrensende allerdings berichtigte Angaben. Daneben wurde Ries der Besitz von vier Gewerbelegitimationskarten angelastet. Sie waren von der Gestapo mit der Begründung »im Reichsinteresse erforderlich« beantragt worden. Vor allem hierauf stützte sich der Kollaborationsvorwurf, der jedoch durch glaubwürdige Entlastungszeugen schon damals widerlegt worden war.

haft Nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Jugoslawien 1941 wurde Ries in Belgrad für dreieinhalb Monate inhaftiert und von der Gestapo ausgebürgert. Schon zuvor war er nach eigenen Angaben für sechs Monate in jugoslawischen Lagern festgehalten worden – ob durch die kroatischen Faschisten der Ustascha oder durch deutsche Organisationen, ist unklar. Nach der Machtübernahme durch die Partisanen unter Tito ein weiteres Mal inhaftiert und wieder freigelassen, wird Ries 1946 als »feindlicher Deutscher« ausgewiesen.

Nach Bremen kehrte Ries Ende 1946 auf Bitten des damaligen Bürgermeisters Wilhelm Kaisen zurück. »Das ist ungewöhnlich«, sagt Vera Harms. »Ich habe sehr viel Verständnis, dass viele Schoa-Überlebende nie wieder nach Deutschland wollten und in die USA oder nach Israel emigriert sind. Ries muss sich jedoch mit seiner Heimatstadt und dem SV Werder stark verbunden gefühlt haben – trotz der vielen NS-Kontinuitäten, die es auch hier gegeben hat«, meint Vera Harms. Das jahrelange »Wiedergutmachungsverfahren« zeige exemplarisch, gegen welche Vorurteile, strukturelle Widerstände und konkreten Antisemitismus Schoa-Überlebende nach 1945 zu kämpfen hatten, ist sich Dirk Harms sicher.

Schon bevor der Kollaborationsvorwurf 1954 fallen gelassen wurde, hatte die Bremer Behörde in mehreren Vermerken die Haltlosigkeit der Anschuldigungen notiert. »Plausibel ist, dass Ries die Karten über sein Bremer Netzwerk erhalten hat, um im Rahmen seiner Generalvertretungen für deutsche Firmen in Jugoslawien Handel treiben zu können«, sagt Dirk Harms. Dafür spreche unter anderem die Zeugenaussage eines Bremer Polizeibeamten, der angab, die Karten als Schutzmaßnahme für den ihm persönlich bekannten Ries beschafft zu haben.

gestapo Ohnehin sei es äußerst dubios, dass sich der Kollaborationsvorwurf ausgerechnet auf Aussagen von zwei früheren Bremer Gestapo-Beamten stützte, die an der Verfolgung und Ermordung von Juden beteiligt waren, sagt Dirk Harms. Einer der Beamten, Bruno Nette, hatte als Bremer »Judenreferent« 1942 persönlich die Deportation von Ries’ Eltern in das Konzentrationslager Theresienstadt organisiert. Eduard und Rosa Ries wurden dort ermordet.

Auch Nick Heilenkötter hat das »Wiedergutmachungsverfahren« sehr irritiert. »Wie war es möglich, sich auf die Aussagen von NS-Tätern zu stützen, die ein klares Motiv hatten, Ries in ein schlechtes Licht zu rücken?«, fragt sich der 19-jährige Werder-Fan. Heilenkötter war für das Layout der Ries-Broschüre verantwortlich.

»Werder geht reflektiert mit seiner NS-Geschichte um, könnte aber noch mehr machen«, meint Heilenkötter, der bei jedem Heimspiel in der Ostkurve steht. »Ich würde es begrüßen, wenn es gerade vonseiten der jungen Fans weitere Aktionen zu Alfred Ries gäbe und der Verein die Biografie in sein Schulprojekt aufnimmt«, sagt Heilenkötter. Thomas Hafke hofft, vor allem junge Bremer über das Schicksal von Alfred Ries für zeitgenössischen Antisemitismus zu sensibilisieren.

engagement Imponiert an Ries’ Biografie hat Heilenkötter vor allem dessen vielfältiges Engagement als Sportfunktionär. Bis zu seinem Tod am 25. August 1967 war Ries nicht nur Werder-Präsident, sondern auch aktiv im Vorstand des Deutschen Fußballbundes (DFB) sowie Gründungsmitglied des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB). Mit seiner außenpolitischen Expertise half er zudem, die Olympischen Spiele 1972 in die Bundesrepublik zu holen.

Darüber hinaus engagierte sich Ries im Vorstand der Jüdischen Gemeinde sowie im von ihm mitgegründeten Bremer Rotary Club. Beruflich trug der in Import- und Exportfragen versierte Ries dazu bei, die internationalen Wirtschaftsbeziehungen Bremens anzukurbeln, indem er das staatliche Außenhandelskontor der Hansestadt aufbaute und es bis 1953 leitete. 1951 wurde Ries unter Bürgermeister Wilhelm Kaisen Oberregierungsrat.

»Wer Versöhnung will, muss sie praktizieren«, erwiderte Ries einmal auf die Frage nach der Motivation für seinen Einsatz für den deutschen Sport und im diplomatischen Dienst der Bundesrepublik. Von 1953 bis zu seinem Ruhestand 1963 war er in Belgrad, Kalkutta und im liberischen Monrovia tätig. Der Broschüre ist der Ausspruch als Motto vorangestellt. »Alfred Ries war ein sportbegeisterter Weltbürger mit festen Wurzeln in seiner Bremer Heimat«, schreiben die Herausgeber.

Mit der Broschüre haben die Herausgeber dazu beigetragen, den »großen Werderaner« wieder stärker in die Öffentlichkeit zu rücken. Am Hastedter Friedhof hängt nun eine Gedenktafel zu Ehren von Ries, und auch das Grab ist inzwischen wieder hergerichtet. Zum Gedenken an Eduard und Rosa Ries waren an ihrem letzten Aufenthaltsort in der Schwachhauser Heerstraße vor einigen Jahren bereits zwei Stolpersteine verlegt worden.

Dialog

Digital mitdenken

Schalom Aleikum widmete sich unter dem Motto »Elefant im Raum« einem wichtigen Thema

von Stefan Laurin  28.03.2024

Jugendzentren

Gemeinsam stark

Der Gastgeber Hannover ist hoch motiviert – auch Kinder aus kleineren Gemeinden reisen zur Jewrovision

von Christine Schmitt  28.03.2024

Jewrovision

»Seid ihr selbst auf der Bühne«

Jurymitglied Mateo Jasik über Vorbereitung, gelungene Auftritte und vor allem: Spaß

von Christine Schmitt  28.03.2024

Literaturhandlung

Ein Kapitel geht zu Ende

Vor 33 Jahren wurde die Literaturhandlung Berlin gegründet, um jüdisches Leben abzubilden – nun schließt sie

von Christine Schmitt  28.03.2024

Antonia Yamin

»Die eigene Meinung bilden«

Die Reporterin wird Leiterin von Taglit Germany und will mehr jungen Juden Reisen nach Israel ermöglichen. Ein Gespräch

von Mascha Malburg  28.03.2024

Hannover

Tipps von Jewrovision-Juror Mike Singer

Der 24-jährige Rapper und Sänger wurde selbst in einer Castingshow für Kinder bekannt.

 26.03.2024

Party

Wenn Dinos Hamantaschen essen

Die Jüdische Gemeinde Chabad Lubawitsch lud Geflüchtete und Familien zur großen Purimfeier in ein Hotel am Potsdamer Platz

von Katrin Richter  25.03.2024

Antisemitismus

»Limitiertes Verständnis«

Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky über ihre Arbeit mit deutschen Hochschulen

von Martin Brandt  24.03.2024

Porträt der Woche

Die Kreative

Mona Yahia stammt aus dem Irak, spricht viele Sprachen, ist Künstlerin und Autorin

von Christine Schmitt  24.03.2024