Geboren 1946

»Ein ganz besonderer Jahrgang«

»Wir sind ein produktiver Unruhehaufen«: Günther B. Ginzel Foto: dpa

Herr Ginzel, Sie sind vor 70 Jahren geboren. Sie sind also so alt wie unsere Zeitung. War 1946 ein ganz besonderer Jahrgang?
Das war ein besonderer Jahrgang, weil wir Eltern hatten, die überlebt hatten und für die es wichtig war, nach der Schoa ein Zeichen zu setzen: Das Leben geht weiter, das Judentum geht weiter. Für meine Eltern, die jahrelang in der Illegalität gelebt und Schreckliches erlitten hatten, war es der Traum schlechthin, nach all den Jahren der Nazizeit, in denen man kein Kind bekommen durfte und konnte, weil es lebensgefährlich gewesen wäre, sich für ein Kind zu entscheiden.

1946 wurden viele Persönlichkeiten geboren, die eine wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinschaft spielen: Henryk M. Broder, Dan Diner, Lala Süsskind, Daniel Libeskind – um nur einige zu nennen. Wie erklären Sie sich das?
Ich glaube, dass wir geprägt sind durch die Erfahrung der Elterngeneration und durch die Umstände, unter denen wir aufgewachsen sind. Wir streben nach einem hohen Maß an Unabhängigkeit, wir sind nonkonformistisch, wir sind solidarisch. Wir empfinden uns als Juden, wir sind tief verankert in jüdischen Mentalitäten und Identitäten, und gleichzeitig geht jeder von uns seiner eigenen Ausprägung nach. Wir sind nicht ganz so einfach einzuordnen. Unser Engagement hat sich stets verbunden auch mit einem Engagement als Juden in der Gesellschaft allgemein oder in der Kunst. Wir sind ein produktiver Unruhehaufen.

Im weltweiten Vergleich der jüdischen Gemeinden war die Geburtenrate damals in Deutschland die höchste. War es Ausdruck des Willens zum Leben und Überleben?

Ja, das war kein Zufall. Ich erinnere mich an Rabbiner Zvi Asaria, den damaligen Oberrabbiner der britischen Zone. Er war Jugoslawe, ist nach der Befreiung nach Bergen-Belsen gegangen, um dort zu helfen. Er erzählte mir, dass man dort tagsüber unter großer Verzweiflung Tausende Leichen verbrannt hatte und abends Hochzeiten gefeiert wurden, wieder mit Tränen in den Augen. Er beschrieb auch, wie er erstmals in die Ruinen von Köln gekommen war. Es war eine kleine heterogene Gemeinschaft, die am Anfang vor allem aus Menschen bestand, die nach Köln zurückgekehrt waren, um zu schauen, ob von der Familie, den Freunden noch jemand am Leben war. Hier waren nicht zuletzt auch Menschen auf der Flucht vor dem neuen Antisemitismus in Polen hängen geblieben. Und in diese Gemeinschaft kam dann Rabbiner Asaria, der in diesem Trümmerfeld eine Sukka aufbaute – als Symbol ungebrochener messianischer Zuversicht inmitten dieses Elends und der Ansammlung von Traumata, das damals quasi die Grundlage einer neuen jüdischen Gemeinde auf deutschem Boden bildete.

Wie gingen die Menschen mit dieser Widersprüchlichkeit um?
Ich bin in dieser Widersprüchlichkeit aufgewachsen und habe früh gelernt, dass das Überleben eine Verpflichtung ist, dass man das eigene Leben nicht wegwerfen kann, sondern dass man im Privaten wie im Jüdischen etwas daraus machen muss, dass Leiden nicht die einzige Antwort auf Auschwitz sein darf: So wurde eben auch getanzt, gelacht, geliebt. Die Überlebenden vererbten uns nicht nur einige ihrer Phobien, sondern bescherten uns eine glückliche Jugend.

Wie wurde damals die Frage nach dem Aufbau jüdischen Lebens in Deutschland diskutiert?
Ich erinnere mich daran, wie mir ein sehr prominentes Mitglied der Gemeinde während der Diskussion, ob man sich wieder ein Haus oder eine Wohnung kaufen sollte, ein kleines Säckchen mit Diamanten zeigte und sagte: Das ist mein Haus, damit kann ich jederzeit auf Reisen gehen. Man muss sich vorstellen, dass damals eigentlich nichts sicher war. Im Gegensatz zu den Gründern der Jüdischen Allgemeinen wussten ja viele nicht, was werden sollte, was ihre Identität ist, und ob man einfach an das anknüpfen konnte, was einmal war. Viele stellten sich die Frage, ob es unanständig oder geradezu eine Notwendigkeit war, in Deutschland zu leben. In diesem Kontext haben die Gründer der »Allgemeinen« eine Position vertreten, die nicht von allen geteilt, aber doch respektiert wurde. Sie hatten die Vision, dass die Antwort auf Auschwitz lauten sollte, die jüdische Kultur, Vielfalt und Offenheit von vor 1933 in dem befreiten Land wiederaufleben zu lassen.

Heute wird von dem Vertrauensbeweis gesprochen, den die Entscheidung darstellt, jüdisches Leben wiederaufzubauen. War dieses Vertrauen gerechtfertigt?
Ich glaube, dass es damals nicht um Vertrauen ging. Es ging darum, das Leben und Überleben zu sichern. Vertrauen in die deutsche Gesellschaft, das war allenfalls eine Frage, die später kam, denn man befand sich in einem Meer von Mitläufern und Profiteuren der Nazizeit, die eher entsetzt waren, dass die Nachbarn von einst überlebt hatten. Nein, Vertrauen hatte man zu den – wie es hieß – anständigen Menschen, Menschen in der Politik und den Kirchen, die sich ein wenig um die jüdische Gemeinschaft geschart hatten. Das Vertrauen war individuell bezogen auf Einzelne, von denen man wusste, dass sie in der Nazizeit »anständig« geblieben waren.

1946 schrieb Philipp Auerbach im Geleit zur ersten Ausgabe: »Wir haben für unsere Zukunft vollstes Vertrauen«. Gilt dieser Satz in Bezug auf die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland auch heute, 70 Jahre danach?
Ja, und auch heute genau in dem Spannungsfeld, in dem Auerbach gelebt hat. Er und seine Mitstreiter haben sich damals, als erste Formen von jüdischen Organisationen entstanden, als Wächter empfunden – als Wächter über die Entnazifizierung, Demokratisierung und die Entwicklung des Rechtsstaates. Gerade Auerbach, der sich mehrfach kritisch geäußert hat, ist unglaublich angefeindet worden. Die vielen verkappten Nazis, die damals noch in Deutschland lebten, wollten sich von einem Juden nicht vorhalten lassen, dass der nationalsozialistische Geist eben nicht mit der Befreiung verschwunden war.

Und wie bildete sich dann das eben schon erwähnte Vertrauen?
Es war das Vertrauen einer jüdischen Minderheit zu einer nicht-nationalsozialistischen deutschen Minderheit. Daraus ist etwas entstanden, was am treffendsten mit dem Begriff des Verfassungspatriotismus benannt wurde. Die Entwicklung des Rechtsstaates wurde möglich, nachdem sich die Justiz teils höchst wiederwillig entnazifiziert hatte. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis Vertrauen wachsen konnte.

Mit dem Kölner Publizisten sprach Detlef David Kauschke.

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