Bielefeld

Doyen des liberalen Judentums

Das Leben, das sind die Menschen um einen, und Erfolge sind immer geteilt», lautete das Fazit, mit dem sich Rabbiner Henry G. Brandt am vergangenen Samstag für einen langen Abend voller Würdigungen und Glückwünsche bedankte. Es war ein Abend unter Freunden: Irith Michelsohn, die Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld, konnte nach Schabbatausgang gut 200 Gratulanten in der Synagoge Beit Tikwa begrüßen.

«Vor Personenkult warnt uns die Bibel», konstatierte der Landtagspräsident von Nordrhein-Westfalen, André Kuper (CDU), in seiner Festrede. «Ein Geburtstag ist keine Leistung, sondern ein Geschenk!» Kuper vertrat kurzfristig Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet, der aufgrund der Sondierungsverhandlungen zur – dann gescheiterten – Jamaika-Koalition in Berlin verhindert war.

Vor Kupers Rede standen vier Grußworte auf dem Festprogramm. Sie warfen Schlaglichter auf ganz unterschiedliche Facetten von Brandts Werk und Wirkung und zeichneten das Bild eines Mannes, der seit Jahrzehnten Reformen in die jüdische Tradition und Tradition in alles Neue zu geben weiß.

Biografie Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats, skizzierte die biografischen Stationen des Jubilars: Kindheit in München, Flucht mit der Familie über Großbritannien nach Tel Aviv, Palmach und israelische Marine, ein Wirtschaftsstudium in Nordirland, schließlich die Rabbinerausbildung am Londoner Leo Baeck College und danach Gemeindearbeit in Großbritannien, der Schweiz und Schweden, 1983 die Rückkehr nach Deutschland, erst als Landesrabbiner von Niedersachsen, später dann von Westfalen-Lippe.

Heute wirkt Brandt noch als Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg und betreut die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld. Lebensmittelpunkt seiner Familie aber bleibt Zürich. Abraham Lehrer gab in seinem Grußwort zu bedenken, welche Emotionen, Assoziationen und Erwartungen Brandt gehabt haben dürfte, als er vor 34 Jahren in Hannover ankam.

Religiöse Ausrichtung Hanna Sperling, die Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinde von Westfalen-Lippe, erinnerte daran, wie es ihr 1995 gelang, den liberalen Brandt nach Dortmund zu holen – für damals neun Gemeinden, die einem eher orthodoxen Ritus folgten. Der Spagat gelang dank dessen, was Leo Baeck «den Willen zum Judentum» nannte. Gemeinsam konnten Sperling und Brandt sieben neue oder erweiterte Synagogen einweihen: Ausdruck für die Aufbauarbeit im Zeichen der jüdischen Zuwanderung aus der früheren Sowjetunion.

Annette Kurschus, Präses der Evangelischen Kirche in Westfalen, machte deutlich, wie Brandt für ihre Kirche zu einem Lehrer geworden ist, der sie zum Hören auf die jüdische Schriftauslegung, ja zu einem Paradigmenwechsel in der Lesart gebracht habe. Weihbischof Manfred Grothe verlas ein Gratulationsschreiben des Paderborner Erzbischofs Hans-Josef Becker, in dem dieser unter anderem Brandts langjähriges Engagement im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken beschrieb. Für die Stadt Bielefeld würdigte schließlich Bürgermeister Andreas Rüther die Verdienste des Doyens des liberalen Judentums.

Begleitung Die Feierstunde wurde von den Kantoren Paul Yuval Adam (Bielefeld) und Nikola David (München) sowie dem New Yorker Kantor Ralph M. Selig an der Orgel musikalisch begleitet.

Und sie wurde zur Sternstunde, als Landtagspräsident Kuper seine Hommage mit drei konkreten Fragen für die Zukunft verband: «Was ist noch zu tun für die Identität der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland und in Nordrhein-Westfalen? Was müssen und können wir Jüngeren tun, um jüdisches Leben in Deutschland weiter zu beleben, auch zu sichern? Und was können die Politik, was die Behörden tun können für das jüdische Erbe?» Ein Anliegen, das von Herzen kommt.

Ob es Zufall war, dass fast alle Redner aus den Psalmen zitierten? In ihnen drücken sich Lob und Dank für das von Gott geschenkte Leben aus. Dies unterstrich Rabbiner Jonah Sievers, Vorstandsmitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands, als er seinem Vorsitzenden die Festgabe überreichte: eine Ausgabe der Psalmen aus der hebräischen Bibel in der Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson, Rabbiner Brandt gewidmet.

Familie Rabbiner Sievers verglich die große Außenwirkung des Publizisten Philippson mit der seines Mentors. Darauf, dass hinter diesem seit mehr als 60 Jahren eine starke Frau steht, die die Familie zusammenhält und ihren Mann stets unterstützt, machte der Vorsitzende der Union progressiver Juden aufmerksam, Rabbiner Walter Homolka. Er zitierte Verse aus den Sprüchen Salomos, aus dem Eschet Chajil, und überreichte Sheila Brandt ein Schmuckstück als Erinnerung an diesen besonderen Abend.

Zentralratsvizepräsident Abraham Lehrer wünschte dem Jubilar angesichts dessen fortgeschrittenen Alters und seiner weiteren Aufgaben «Mazal tov bis 120 – und die Mehrwertsteuer noch dazu».

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