Abschied

Do swidanja, Inna Luchanskaja

Hat viele Jahre ihres Lebens in Chemnitz verbracht: Inna Luchanskaja Foto: André Koch

»Die jüdische Gemeinde in Toronto, die eine so aktive und kluge Frau gewinnen wird, beneide ich schon jetzt«, schreibt Ruth Röcher, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Chemnitz, über Inna Luchanskaja. Man hört förmlich den Seufzer des Bedauerns in diesem Satz. Denn Inna Luchanskaja ist eine Institution in der Gemeinde. Ihr Verdienst ist es, dass die Wohlfahrtsarbeit der Jüdischen Gemeinde Chemnitz heute als vorbildlich gilt.

Und nun geht sie weg: Anfang Juni ziehen Inna und ihr Mann Roman zu ihren Kindern und den drei erwachsenen Enkeln nach Kanada. Das Nachrichtenblatt der Chemnitzer Gemeinde ehrt ihr aktives Mitglied mit einer Beilage und Abschiedsgrüßen. »Sie verbreitet um sich Energie und Optimismus«, heißt es dort, und: »Sie ist von einer ansteckenden Freude. Ich musste mich öfters fragen, wie denn ein so großes Herz in eine so kleine Person passt.« Nicht minder emotional ist der Abschied für Luchansjka selbst. »Ich musste weinen, als ich das gelesen habe«, bekennt sie, und wieder werden ihre Augen feucht.

Flucht Geboren wurde Inna Luchanskaja 1934 in Kiew. Als Siebenjährige musste sie vor den deutschen Truppen in den Ural fliehen. »Da war meine Kindheit vorbei.« Über den jüdischen Glauben erfuhr sie wenig. »Meine Großmutter wusste zwar viel, traute sich aber nicht, mir davon zu erzählen, denn das war verboten.«

Als Inna Luchanskaja Ende der 90er-Jahre zusammen mit ihrem Mann und ihrer Mutter nach Chemnitz kam, kannte sie sich kaum im Judentum aus. Trotzdem trat sie sofort der jüdischen Gemeinde bei. Und sie war wissbegierig: Im Jahr 2000 besuchte sie zum ersten Mal ein Seminar der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Ein Thema fesselte sie besonders: Bikur Cholim. Krankenbesuche machen, sich um alte Menschen kümmern – das interessierte die ehemalige Ärztin, die 41 Jahre lang an einem Krankenhaus im Ural tätig war.

In der Gemeinde fand sie erste Mitstreiter für Bikur Cholim und besuchte weitere Seminare. Von Jahr zur Jahr wuchs die Initiative. Seit 2004 ist Bikur Cholim in der Stadt ein eigenständiger Verein. Inna Luchanskaja und ihre »Mannschaft« – so nennt sie ihre Mitstreiter – besuchen Senioren zum Geburtstag, bringen Geschenke an jüdischen Feiertagen und nutzen die Gelegenheit, den alten Leuten von der Bedeutung der Feiertage zu erzählen. Wenn jemand im Krankenhaus liegt oder einen Übersetzer braucht, ist der Verein ebenfalls zur Stelle. Allein im letzten Jahr absolvierte Bikur Cholim 1.247 Besuche bei betagten und kranken Menschen.

Engagiert Doch nicht nur für Kranke engagiert sich Inna Luchanskaja, sondern auch für die Chewra Kaddischa, damit sichergestellt ist, dass Verstorbene gemäß jüdischer Regeln bestattet werden. Luchanskaja gründete einen Kurs für Atemgymnastik, eine Diabetiker-Selbsthilfegruppe, einen Gesundheitsclub und gewann Ärzte, die die Senioren in der Gemeinde kostenlos über Gesundheitsthemen informieren.

Sie beteiligte sich an einer Dokumentation darüber, wie Juden aus Chemnitz und zugewanderte Gemeindemitglieder den Holocaust überlebt haben, und sie organisiert Feste, wie gerade erst, am 9. Mai, als mehr als 150 Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion im Gemeindesaal den Jahrestag des Kriegsendes 1945 feierten. Bei allen Feiern achtet Inna Luchanskaja darauf, dass besonders die alten Menschen zu ihrem Recht kommen. Dabei will die fast 78-Jährige, die gern Jeans und Poloshirt trägt, so gar nicht recht in die Gruppe älterer Menschen passen.

»Für mich ist Arbeit Leben«, stellt sie fest. Jeden Tag kommt sie in die Jüdische Gemeinde, »zu Hause bin ich fast nur zum Schlafen«, erzählt sie und lacht. Ihr Telefon sei 24 Stunden einsatzbereit: »Inna, welche Tabletten muss ich nehmen? Inna, wann findet der Gymnastikkurs statt?« Von ihr erwartet jeder eine Antwort – »aber das stört mich nicht«. Schon jetzt hat ihr die Gemeinde aufgetragen, in Toronto möglichst bald über Skype erreichbar zu sein.

15 Jahre hat sie in Chemnitz verbracht, »ein großer Teil meines Lebens«, wie dieWahl-Chemnitzerin sagt. Sie liebe diese Stadt, besonders die Konzerte in der Stadthalle, das Theater, die Museen – und natürlich das jüdische Gemeindehaus. Dabei fiel es ihr, die 27 Familienmitglieder im Zweiten Weltkrieg verloren hat, zunächst nicht leicht, ausgerechnet nach Deutschland zu kommen. Aber das heiße Klima in Israel wollte sie ihrem Mann und ihrer kranken Mutter nicht zumuten.

Sprachunterricht In Deutschland begann sie sofort, die Sprache zu lernen, und ist stolz, dass sie sich problemlos unterhalten kann und alles versteht. Auch in Kanada will sie Kontakte knüpfen und hat deshalb schon einen Volkshochschulkurs Englisch absolviert. Ob sie auch in Toronto ehrenamtlich in einer jüdischen Gemeinde arbeiten wird, weiß sie noch nicht. »Es gibt dort ja so viele Gemeinden, eine in jeder Straße«. Findet sie es nicht schön, in eine so große jüdische Gemeinschaft zu kommen? Sie lächelt: »Wir sind doch alle Menschen, Juden oder Nichtjuden.«

Ein Abschied von Chemnitz für immer wird es nicht. Weil ihre Mutter in Chemnitz begraben ist, will Luchanskaja ab und an zu Besuch kommen. Und bei der Gelegenheit wird sie sicher auch schauen, wie ihre »Mannschaft« die Arbeit in der Gemeinde weiterführt. »Ich danke allen meinen Mitstreitern und besonders Ruth Röcher. Wir hatten nie Streit – so etwas gibt es nicht oft. Manchmal denke ich, Gott hat uns zusammengeführt.«

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