Porträt der Woche

Die Vielseitige

»Oft hindern uns Selbstzweifel am Wohlbefinden – das durch Coaching zu verändern, ist eine spannende Reise«: Nili Shani (43) Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

Die Vielseitige

Nili Shani hat Webdesign studiert und arbeitet als Dozentin und Beziehungscoach

von Jérôme Lombard  14.08.2017 18:10 Uhr

Ich bin ein »Mix-Mensch«, und damit fühle ich mich gut. Ich habe sowohl sefardische als auch aschkenasische Wurzeln – meine Mutter kommt aus Marokko, mein Vater aus Polen. Kennengelernt haben sie sich in Israel. Eigentlich hieß mein Vater mit Familiennamen Schneider. Nach seiner Ankunft in Israel hat er ihn hebraisiert, um mehr Israeli zu sein, so wie es viele andere in dieser Zeit auch gemacht haben. Mein Onkel und meine Großeltern haben es ihm gleichgetan. Erst als ich nach Deutschland kam, habe ich gelernt, was Schneider überhaupt bedeutet.

Ich wurde in Tel Aviv geboren. Leider spreche ich weder Polnisch noch Arabisch, dafür kann ich aber inzwischen Deutsch. Seit mehr als 16 Jahren lebe ich nun schon in Berlin, und ich fühle mich meistens wohl hier. Dass ich das einmal sagen würde, hätte ich früher nie gedacht. Als ich 2001 der Liebe wegen nach Berlin zog, hatte ich eine Menge Vorurteile gegenüber Deutschland und den Deutschen. Ich hatte Angst vor der deutschen Bürokratie und vor allem vor den kalten Wintern.

vorurteile Als Kind habe ich viele Filme über den Nationalsozialismus gesehen, deren Bilder in meinem Gedächtnis hängengeblieben sind. Die konnte ich nicht einfach ausblenden. Als ich nach Berlin kam, wusste ich nicht genau, was ich hier machen sollte.

In Israel hatte ich an der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan Psychologie studiert und anschließend eine Ausbildung zur Programmiererin gemacht. Glücklicherweise ist das Programmieren ein Job, der weltweit sehr gefragt ist. So kam es, dass ich zunächst für zwei Jahre beim Cornelsen-Verlag arbeitete und mich danach als Webdesignerin selbstständig machte.

Meine Vorurteile gegenüber Deutschland habe ich mit der Zeit abgebaut, meine Befürchtungen, was die Bürokratie angeht, wurden nicht bestätigt. Ich muss sogar sagen: Meine Erfahrungen mit den Ämtern hier waren nur positiv. Und was das Winterwetter angeht, habe ich mich über die Jahre daran gewöhnt. Ich halte den Winter leichter aus als den extrem heißen israelischen August. Berlin ist wunderbar, ich liebe diese Stadt. Sie passt zu mir, denn sie ist ein Mix wie ich, offen und vielschichtig.

Ich wohne in Kreuzberg und fühle mich hier wohl, weil in dieser Gegend Deutsche zusammen mit vielen Ausländern wohnen, diese Mischung erinnert mich an Israel. Meine Eltern haben mich hier leider noch nicht besucht. Am Anfang war es schwer für sie, dass ich im Ausland – und dann ausgerechnet in Deutschland – lebe. Sie brauchten einige Jahre, um sich damit abzufinden. Da sie aber jetzt schon zu alt sind für die anstrengende Reise, fliege ich mindestens zweimal pro Jahr nach Israel, damit wir uns regelmäßig sehen können.

methode Ich liebe es, ganz unterschiedliche Sachen zu machen. Neben meiner Arbeit als selbstständige Webdesignerin arbeite ich als Dozentin und unterrichte Frauen mit und ohne Migrationshintergrund an verschiedenen Bildungseinrichtungen im Erstellen von Websites.

Im Rahmen dieser Kurse lerne ich Frauen aus aller Welt und in verschiedenen Lebenslagen kennen. Was ich besonders daran schätze, ist die Gelegenheit, mit Frauen aus arabischen Ländern zu arbeiten und sie persönlich kennenzulernen. In Israel wären diese Begegnungen schwer möglich.

Meine besondere Leidenschaft aber ist das Coaching nach der Methode »The Work« von Byron Katie. Mithilfe dieser Methode können wir unsere stressigen Gedanken überprüfen, damit sie uns langfristig weniger beeinträchtigen. Es geht in erster Linie um einen Selbsterkenntnisprozess und darum, einen Weg zum Frieden mit sich selbst und damit auch mit der eigenen Umwelt zu finden. Wie oft am Tag denken wir über uns selbst nach: Bin ich gut genug? Bin ich zufrieden mit dem, was ich bin, und dem, was ich erreicht habe? Oder wir machen uns stressige Gedanken über andere wie etwa: »Niemand hört mir zu«, »Es ist seine Schuld«.

So viele Menschen zweifeln an sich selbst, und dieser Zweifel steht oftmals zwischen uns und unserem Wohlbefinden. Das im Coaching-Prozess zu verändern, ist meist eine spannende Reise, während derer wir uns selbst besser kennenlernen und die Beziehungen zu uns selbst und anderen verbessern können.

Als die Amerikanerin Byron Katie 2012 für einen Vortrag nach Berlin kam und ihre Arbeit vorgestellt hat, war ich von der Leichtigkeit und gleichzeitigen Tiefe dieser Methode begeistert. Ich habe sie selbst ausprobiert und fand sie effektiv und hilfreich. Ich wusste sehr schnell, dass diese Arbeit zu mir passt, und habe mich dann zum »Coach for The Work« ausbilden lassen. Ich arbeite seitdem mit großer Freude als Coach und bin dankbar, diesen Weg gefunden zu haben.

familie Als sonderlich religiös würde ich mich nicht bezeichnen. Ich komme ursprünglich aus einer traditionell-jüdischen Familie, in der wir alle Feiertage gefeiert haben und auch der Haushalt koscher geführt wurde. Nachdem ich mit Anfang 20 mein Elternhaus verlassen habe, lebte ich in Tel Aviv eher säkular.

In Berlin habe ich dann den Buddhismus kennengelernt und mehrere Jahre Meditation praktiziert. So wie Gebete eine Auszeit im Alltag schaffen können, war für mich die Meditation eine Möglichkeit, täglich Raum für Reflexion zu haben. In dieser Zeit hat das Judentum keine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt. Ich feierte zwar manche Feiertage und traf Freunde zu Schabbatabendessen, es war aber für mich eher etwas Familiäres, nichts Religiöses.

Vor zwei Jahren habe ich »LSD« kennengelernt (»Let’s Start Davening«) – eine Kabbalat-Schabbat-Gruppe, die Rabbiner Ariel Pollak mit anderen aufgebaut hat. Dort gibt es eine tolle Atmosphäre, so offen und freundlich, egal ob man jüdisch ist oder nicht. Jeder ist willkommen. Hier treffen sich viele nette Leute, es gibt Musik, jeder bringt etwas für das anschließende gemeinsame Essen mit. Das gefällt mir. Für mich liegt der Schwerpunkt auf dem gemeinsamen Miteinander und nicht auf dem religiösen Ritus. Denn in die Synagoge gehe ich eher selten.

jom Kippur Ich kann mich aber sehr gut daran erinnern, wie es sich angefühlt hat, als ich zum ersten Mal die Fraenkelufer-Synagoge betrat. Ich habe nicht erwartet, dass es mich berühren würde, aber der Geruch dort, eine Mischung aus alten Büchern und wer weiß was noch, hat mich sofort an meine Kindheit erinnert – an die Synagoge, zu der ich immer mit meinem Vater und meinem Großvater an Jom Kippur gegangen bin.

Als kleines Kind durfte ich noch mit meinen zwei älteren Brüdern in den Männerbereich. Später war ich nur oben mit meiner Mutter, meiner Schwester und meiner Oma. Jedes Mal, wenn ich Leonard Cohens »Who by Fire« höre, muss ich an das Jom-Kippur-Gebet in dieser alten aschkenasischen Synagoge denken.

Es hat mich ziemlich überrascht, wie tief der Geruch in meinem Gedächtnis verankert ist und wie viele Erinnerungen das hervorruft. Meine Großeltern sind inzwischen schon über 20 Jahre tot. Es freut mich, dass ich jetzt eine Synagoge um die Ecke gefunden habe, die mich mit ihnen verbindet.

freizeit Momentan gibt es keinen Grund für mich, aus Berlin wegzugehen, da ich hier viele Freunde und meinen Lebensmittelpunkt habe. Neben meiner Arbeit finde ich genug Zeit für Dinge, die ich sonst noch gerne mache wie Lesen, Modern Dance und seit Kurzem auch Skateboardfahren. Es war mir nie wichtig, in einer jüdischen Partnerschaft zu leben, aber es hat sich so ergeben. Über meine Freundin, die aus den USA kommt, habe ich die Gelegenheit bekommen, das amerikanische Reformjudentum näher kennenzulernen. Das freut mich, denn die weltoffene und willkommen heißende Art des Reformjudentums spricht mich sehr an.

Auch in diesem Sinne hat mir Berlin die Tür in eine Welt geöffnet, die mir in Israel unbekannt war. Meine Freundin und ich reden manchmal darüber, ob wir karrierebedingt für ein paar Jahre in die USA gehen sollten, aber eigentlich würden wir beide lieber hier bleiben. Wir beide lieben nämlich Berlin. In jedem Fall aber möchte ich meine Arbeit als Webdesignerin und Dozentin fortsetzen und auch weiter als Coach arbeiten. Alles ist gerade gut so, wie es ist. Und ich bin offen für das, was noch kommt.

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