Porträt der Woche

Die Stimme erheben

Fragt sich, ob die aktuellen politischen Verhältnisse in der Welt bereits ein Vorbeben sind: Yossi Herzka (24) aus Gießen

Porträt der Woche

Die Stimme erheben

Yossi Herzka engagiert sich bei »KlimaStreik« und möchte Theaterdramaturg werden

von Gerhard Haase-Hindenberg  21.06.2025 23:38 Uhr

Nach dem »Anschluss« Österreichs durch die Nazis im Jahr 1938 waren meine Großeltern väterlicherseits in die Schweiz gekommen. Der Großvater mütterlicherseits auch. Insofern hatte meine Familie immer einen Wien-Bezug. Die andere Großmutter hingegen hatte familiäre Wurzeln im Kanton Aargau. Da gibt es die Dörfer Endingen und Lengnau, wo Juden bis ins 19. Jahrhundert angesiedelt worden waren. Aus diesen Schweizer Schtetln also stammte deren Familie.

Als ich ein Kind war, gab es in der Schweiz unter Juden einen Code. Wenn man nicht offen sagen wollte, dass man jüdisch ist, nannte man die Abfahrtszeit eines Vorortzuges, der von Zürich aus zu diesen beiden Dörfern fuhr. Den Code selbst habe ich leider vergessen. Ansonsten bin ich in einem sehr politischen Haushalt aufgewachsen, in dem es bei den Tischgesprächen fast immer um politisch-kulturelle Themen ging. Es wurde auch oft davon gesprochen, dass es in der Welt viele Ungerechtigkeiten gibt. Schon als Kind haben mich meine Eltern auf Demonstrationen mitgenommen, wie etwa am 1. Mai. Mein Vater war kurze Zeit bei den Sozialdemokraten. Das alles hat mich als Kind natürlich geprägt.

Als Jugendlicher war ich in der links-progressiven Szene unterwegs

Als Jugendlicher war ich in der links-progressiven Szene unterwegs und habe mich für alle möglichen Minderheiten eingesetzt. Aber nach dem 7. Oktober 2023 musste ich feststellen, dass sich niemand für die jüdische Seite engagiert. Das war eine große Enttäuschung. In Deutschland gibt es immerhin einen Teil der Linken, der darauf bedacht ist, an der Seite der Juden und Israels zu stehen. In der Schweiz ist das eher selten der Fall.

Meine Familie war Mitglied bei Migwan, der Liberalen Jüdischen Gemeinde in meiner Geburtsstadt Basel. Da habe ich auch meine Barmizwa gemacht. Als Kind nahm ich am jüdischen Religionsunterricht teil. Dafür kam regelmäßig eine Israelin aus Bern angereist. Auf dem Weg zum Unterricht habe ich im Bus, obwohl ich ja optisch als Jude nicht erkennbar war, immer ängstlich auf Springerstiefel und Bomberjacken geachtet.

Es war eine diffuse Angst, denn es gab in Basel kaum Neonazis. Abgesehen von einem Lokal in der Nähe unserer Wohnung, von dem mein Vater einmal sagte, dass dort Nazis wären. Wahrscheinlich war das eher eine rechts-konservative Klientel. Aber bei mir hat das eben diese Angst ausgelöst, denn speziell auf dem Weg zum Religionsunterricht habe ich mich immer sehr jüdisch gefühlt.

Das hatte etwas mit einem Zugehörigkeitsgefühl zu tun. An meiner Schule nahm ich ja am christlichen Religionsunterricht nicht teil. Insofern war schon bekannt, dass wir Juden waren, aber es spielte keine Rolle. Anders war das im Sportverein, in dem ich Feldhockey spielte.

Vor allem auf dem Weg zum Religionsunterricht habe ich mich immer sehr jüdisch gefühlt.

Wenn wir unter die Dusche gingen, kam schon mal ein Spruch, ich solle aufpassen, dass ich nicht vergast werde. Aus heutiger Sicht glaube ich nicht, dass sich meine Sportkameraden der ganzen Tragweite eines solchen Spruches bewusst waren.

Während meiner Zeit am Gymnasium besuchte ich Theaterkurse. Da habe ich dann erfahren, dass es in Basel eine Mittelschule mit dem Schwerpunkt Theater gibt, an der man das Fachabitur machen kann. Das empfand ich als so reizvoll, dass ich auf diese Schule gewechselt bin. Zum Lehrplan gehörte Schauspielunterricht und auch ein Fach, das »Körper, Stimme, Bewegung« hieß. Es gab spracherzieherischen Unterricht, was aber leider mein Nuscheln nicht ganz verschwinden ließ. Ein anderer Schwerpunkt war die Arbeit an Theatertexten.

Ich hatte zum Klima-Thema recherchiert und Interviews geführt

In der Corona-Zeit konnte der Unterricht nicht mehr live vor Ort, sondern nur noch via Zoom von zu Hause aus stattfinden. Im letzten Schuljahr hatten wir Zeit für ein praktisches Abschlussprojekt. Da habe ich dann, noch immer unter Corona-Beschränkungen, mit Mitschülern ein Stück inszeniert, das gestreamt wurde.

Mit einer Overshoulder-Kamera versuchte ich, in langen Gängen und verschiedenen Räumen anhand einer Person den realen juristischen Weg der Bewegung der »Klima­Seniorinnen« bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nachzuzeichnen. Auf die Idee zu diesem Projekt war ich während meines Engagements bei »KlimaStreik« gekommen, der schweizerischen Variante von »Fridays for Future«.

Vor dieser Abschlussarbeit hatte ich eine andere Arbeit an der Schule gemacht, bei der ich mich dramaturgisch an den Prozessprojekten des Theaterregisseurs und Filmemachers Milo Rau orientiert habe. Milo Rau hatte die »Moskauer Prozesse«, drei russische Strafverfahren gegen Kuratoren und Künstlerinnen zwischen 2005 und 2010, auf die Bühne gebracht und eine Doku unter dem Titel Kongo-Tribunal gedreht. Ich wiederum hatte zum Klima-Thema recherchiert und Interviews geführt. Neben Klima­aktivistinnen hatte ich auch bei Konzernen angefragt, ob sie für Spiel­szenen zur Verfügung stehen würden. Darauf hatte natürlich keiner von denen Lust.

Wir haben in unserer Schule gedreht

So habe ich einen Text entwickelt, der auf den tatsächlichen Prozess-Protokollen der KlimaSeniorinnen basiert. Als ich das inszenieren wollte, ist mir aufgefallen, dass der Text allein zu langweilig ist. So habe ich dann den Weg dieser Klagen filmisch dargestellt, die ja immer nur aus formalen Gründen ohne inhaltliche Auseinandersetzung abgelehnt wurden. Wir haben in unserer Schule gedreht, deren triste Gänge sehr gut zu den bürokratischen Institutionen im Film gepasst haben.

Das Konzept meiner Arbeit könnte man mit »Eine Abstraktion von Bürokratie« überschreiben.

Das Konzept meiner Arbeit könnte man mit »Eine Abstraktion von Bürokratie« überschreiben. Am Schluss hört man aus dem Off einen Menschen vom Bundesamt für Umwelt, der mir erklärt hat, warum die Klage aus Sicht der Regierung abzulehnen sei. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht klar, dass die KlimaSeniorinnen in Straßburg einen spektakulären Erfolg gegen die Schweiz erringen würden. Meinen Film findet man auf der Plattform YouTube unter dem Titel »IFNL – Institut für nachhaltige Lösungen«.

Als ich die Schule abgeschlossen hatte, trat ich meinen Grundwehrdienst in der Schweizerischen Armee an. Ich hätte auch Zivildienst leisten können, habe mich aber aus Neugier fürs Militär entschieden. Meine Motivation war, dass ich mich mit Menschen konfrontieren wollte, mit denen ich sonst nie etwas zu tun habe. Es waren viele junge Leute vom Land mit mir da, die vollkommen andere Lebensentwürfe hatten. Insofern war es rückblickend eine spannende, aber auch sehr harte Zeit, die ich als zeitweise Auseinandersetzung mit einem Ohnmachtsgefühl in Erinnerung habe.

Seit letztem Herbst lebe ich in Gießen, wo ich Angewandte Theaterwissenschaften studiere. Das Institut an der hiesigen Uni war mal das Zentrum für postdramatisches Theater, bei dem der Fokus auf die Arbeit in Kollektiven hin zum Performance-Theater gelegt wird. Dieses Studium hat ein paar große Namen der freien Szene wie René Pollesch oder Kollektive wie She She Pop oder Rimini Protokoll hervorgebracht.

Gerade war ich in Hamburg auf einem Workshop für junge Dramaturgen

Man ist an diesem Institut darum bemüht, eine Nähe herzustellen zwischen wissenschaftlich-theoretischer Auseinandersetzung und dem praktischen Schaffen. Gerade war ich in Hamburg auf einem Workshop für junge Dramaturgen, wo es zu einem interessanten Gedankenaustausch kam. Für mich war das insofern spannend, weil ich derzeit ein Theaterfestival in Gießen organisiere, das den programmatischen Namen »Diskurs Festival« trägt. Das gibt es bereits seit 40 Jahren, und im nächsten November steht es unter dem Titel »Vorbeben«.

Dabei stellen wir die Frage, ob die aktuellen politischen Verhältnisse in der Welt – gemessen am Bild eines Erdbebens – bereits ein Vorbeben darstellen. Wenngleich man ein Vorbeben ja eigentlich immer nur retrospektiv als solches benennen kann. Wir aber wollen herausfinden, was es bedeutet, wenn wir behaupten, in einem Vorbeben zu leben, falls die Tendenz zum Autoritären in Deutschland weiter vorrückt. Wir laden sowohl Theatergruppen wie auch Kulturwissenschaftler ein. Also auch hier geht es darum, eine Nähe herzustellen zwischen künstlerischer Praxis und theoretischer Unterfütterung. Genau an dieser Schnittstelle sehe ich meine berufliche Zukunft als Theaterdramaturg.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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