Porträt der Woche

Die Sprachlehrerin

»Früher war ›jüdisch‹ fast ein Fremdwort – inzwischen gehe ich mit meinem Mann oft in die Synagoge«: Julia Steinberg (48) aus Dortmund Foto: privat

Porträt der Woche

Die Sprachlehrerin

Julia Steinberg arbeitete als Dolmetscherin vor Gericht, heute unterrichtet sie Deutsch

von Gerhard Haase-Hindenberg  22.07.2025 15:14 Uhr

Mein Geburtsort liegt in Georgien, aber als ich drei Monate alt war, zogen meine Eltern mit mir nach Riga. In der lettischen Hauptstadt verbrachte ich meine Kindheit und Jugend. An der Schule war ich zwar keine Einser-Kandidatin, aber als gute Schülerin würde ich mich schon bezeichnen. Mein Vater war Lkw-Fahrer, und meine Mutter arbeitete in einem Modehaus als Verkäuferin. In den 90er-Jahren kam bei ihnen die Überlegung auf, nach Deutschland auszuwandern, und wir haben uns bei der jüdischen Gemeinde in Riga nach den Möglichkeiten erkundigt.

Bis dahin wusste ich nicht, dass wir jüdisch sind, denn Religion spielte bei uns nie eine Rolle. Jedenfalls wusste ich nichts über das Judentum. Ich kann mich auch nicht erinnern, wer mir als Erstes etwas darüber erzählt hat. Wahrscheinlich ist das meine Mutter gewesen, denn wir hatten damals keine Freunde, die jüdisch waren. Irgendwann aber sind wir mal wieder in der Gemeinde gewesen, weil meine Mutter gehört hatte, dass es für jüdische Jugendliche möglich sei, eine Weile in Israel zu leben.

Das war so eine Art Austauschprogramm, und sie hatte überlegt, ob das etwas für mich sein könnte. Dann aber kamen ihr wieder Bedenken. Womöglich würde ich gerade in Israel sein, wenn die Familie die Erlaubnis bekommt, nach Deutschland auszureisen. Also blieb ich erst mal in Riga. Inzwischen aber nahm ich immer mal an Freizeitaktivitäten teil, die die Gemeinde für jüdische Jugendliche anbot. So etwa eine Diskothek im Jugendclub oder den alljährlichen Purim-Ball.

In Israel bin ich bis heute nicht gewesen

Große Kenntnisse über das Judentum habe ich auch in dieser Zeit nicht erworben. Im Oktober 1996 feierte ich in Riga meinen 19. Geburtstag, und im Monat darauf übersiedelte ich mit meiner Familie nach Deutschland. In Israel bin ich bis heute nicht gewesen.

Als wir nach Deutschland kamen, waren wir zunächst in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Unna-Massen. Von da aus wollten wir eigentlich nach Essen, weil dort der frühere Chef meines Vaters lebte. Aber das war damals nicht möglich, deshalb wählten wir Bochum als Wohnsitz. Das ist schließlich nicht so weit von Essen entfernt. Dort habe ich bis 2007 gelebt, bis ich geheiratet habe. In Bochum besuchte ich eine Sprachschule, denn ich wollte möglichst schnell Deutsch können. Da ich in Lettland schon angefangen hatte, Psychologie zu studieren, durfte ich einen Kurs für Akademiker besuchen.

Allerdings wurde mein lettischer Schulabschluss nicht anerkannt, und ich musste in zwei Semestern noch einmal das Abitur machen. Das war nur in Köln möglich. Ich hatte dort eine sehr schöne Zeit. Weil ich inzwischen schon auf hohem Niveau Deutsch sprach, fiel mir das Abitur nicht besonders schwer. Danach begann ich zu studieren – Spanisch, Englisch und im Nebenfach Zivilrecht. Mein Plan war, diese beiden Sprachen zu unterrichten und nebenbei als Dolmetscherin vor Gericht tätig zu werden.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass ich mich in einen Ukrainer verliebt habe.

Letzteres habe ich dann ausprobiert sowohl aus dem Spanischen ins Deutsche, als auch aus dem Russischen. Dabei habe ich gemerkt, dass das sehr anstrengend ist und mir keine Freude macht. Vor allem empfand ich manche Aussagen, die ich übersetzen musste, als sehr unangenehm. Daraufhin habe ich als Zusatzstudium »Deutsch als Fremdsprache« belegt. Inzwischen hatte ich an der Bochumer Uni meinen späteren Mann kennengelernt, der nach dem Studium in Dortmund eine Stelle als Rechtsanwalt bekam. Wir haben uns eine Wohnung genommen, und ich habe begonnen, als Lehrerin für »Deutsch als Fremdsprache« zu unterrichten.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass ich mich in einen Ukrainer verliebt habe, der auch Russisch spricht. Aber dass er jüdisch ist, das ist reiner Zufall. Bis dahin war der Begriff »jüdisch« für mich noch immer fast ein Fremdwort – bis wir unsere Familie gründeten. Mein Mann ist jemand, der jeden Freitagabend in den Gottesdienst geht, und mit ihm besuchte ich nun zum ersten Mal in meinem Leben eine Synagoge. In Lettland war ich zwar auf dem Purim-Ball oder bei anderen Feiern der jüdischen Gemeinde gewesen, aber die Synagoge hatte ich nie betreten.

Ich bin durch meine Kinder in die jüdische Gemeinschaft hineingewachsen

Heute habe ich zwei Kinder: eine 15-jährige Tochter, die vor drei Jahren ihre Batmizwa gemacht hat, und einen zehnjährigen Sohn. Er hat seine Barmizwa also noch vor sich. Im Gegensatz zu mir wurden meine Kinder von Anfang an jüdisch erzogen. Wir hatten damals schon in Dortmund einen jüdischen Kindergarten. Da gingen unsere Kinder hin, und in der Grundschule gab es eine jüdische Nachmittagsbetreuung. Dadurch, dass sie von klein auf in diesen jüdischen Betreuungseinrichtungen waren, habe ich auch andere jüdische Eltern kennengelernt, die ich zu den Feiertagen dann wieder in der Synagoge traf. So bin ich durch meine Kinder in die jüdische Gemeinschaft hineingewachsen und habe mehr und mehr über das Judentum erfahren. In der Dortmunder Gemeinde gab es auch eine Rebbetzin, die Veranstaltungen zu verschiedenen Themen für Frauen angeboten hat. Die habe ich regelmäßig besucht. Mit meinem Mann bin ich auch mal nach Antwerpen gefahren, wo die dortige Gemeinde zu Seminaren für jüdische Frauen eingeladen hatte.

Offenbar hatte man wohl ehemalige Kontingentflüchtlinge im Auge, denn die Seminare fanden in russischer Sprache statt. Inzwischen begleite ich meinen Mann oft am Freitagabend zum Gottesdienst und an den Feiertagen immer. Gelegentlich gehe ich auch am Samstagmorgen allein hin.

Nachdem ich einige Jahre als Dozentin »Deutsch als Fremdsprache« unterrichtet habe, bin ich als sogenannte Quereinsteigerin in den normalen Schuldienst gegangen und unterrichtete an einer Gesamtschule in Fröndenberg an der Ruhr, nicht weit von Dortmund entfernt. Zunächst wusste keiner an der Schule, dass ich jüdisch bin, weder Schüler noch Eltern, und auch niemand im Kollegium. Ich habe daraus kein Geheimnis gemacht, aber ich hielt es auch nicht für notwendig, es zu erzählen.

Zunächst wusste keiner an der Schule, dass ich jüdisch bin

In dieser Zeit habe ich meine beiden Kinder bekommen, und nach der Geburt des zweiten Kindes passierten seltsame Dinge. Ein Kollege erzählte mir völlig zusammenhanglos von dem polnisch-jüdischen Pädagogen Janusz Korczak, der in der NS-Zeit ein jüdisches Waisenhaus geleitet hatte und die Kinder auch dann nicht im Stich gelassen habe, als sie deportiert wurden. Korczak habe sie in das Vernichtungslager begleitet, obgleich er wusste, dass dies für ihn den Tod bedeutete. Ich habe mich gefragt, warum der Kollege mir das erzählte. Dann begrüßten mich einige Kolleginnen plötzlich mit »Schalom«, was mich sehr irritiert hat. Ich bin gar nicht darauf eingegangen. Mein Verdacht ist, dass meine Unterlagen irgendwo offen herumgelegen haben, als ich den Mutterschutz beantragte. Darin befand sich auch die Geburtsurkunde meines Sohnes, und auf der stand natürlich bei der Religionszugehörigkeit der Eltern »jüdisch«. Jemand musste das gesehen haben. Von mir jedenfalls hatte es niemand erfahren. Die Schüler schon gar nicht.

Einige darunter waren aus Syrien geflüchtet, und einer dieser Schüler verkündete in der Klasse, sollte er einem Juden begegnen, würde er auf diesen einstechen. Den Vorfall habe ich natürlich der Schulleitung gemeldet. Von da an durfte ich in dieser Klasse nie allein sein und hatte fortan einen Referendar an meiner Seite. Irgendwann blieb dieser Schüler dann dem Unterricht fern.

Nach sieben Jahren empfand ich die Arbeit an der Schule als sehr ermüdend, weshalb ich mich noch einmal umorientiert habe. Inzwischen bin ich an der Volkshochschule in Lünen als hauptpädagogische Mitarbeiterin tätig und als solche verantwortlich für den Fachbereich Fremdsprachen. Zu meinen Aufgaben gehört es, ein Sprachprogramm zusammenzustellen, das Unterrichtsangebot zu organisieren und das Programmheft zu gestalten – was bedeutet, Bilder herauszusuchen und passende Slogans zu entwerfen. Diese Tätigkeiten machen mir viel Spaß, denn ich komme mit sehr vielen unterschiedlichen Menschen zusammen. Es ist wirklich ein sehr kreativer Job.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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