Daniel Libeskind

»Die Realität ist immer unerwartet«

Herr Libeskind, am 11. September 2001 sollte das Jüdische Museum Berlin (JMB) erstmals für das Publikum geöffnet werden. Dann kamen die Terroranschläge auf das World Trade Center dazwischen. Jetzt, 20 Jahre danach, sind die Taliban wieder in Kabul an der Macht.
Das ist natürlich schockierend -– und letztendlich auch eine Konsequenz der Anschläge von 9/11. Dieser Terroranschlag hat nicht nur die Twin Towers zerstört, sondern die Welt verändert. Die jüngste Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat uns erneut gezeigt, dass sich die Welt sehr unerwartet in unterschiedliche Richtungen entwickeln kann.

Wenn Sie sich an den 9. September 2001 erinnern, an das festliche Eröffnungskonzert im Jüdischen Museum Berlin und die Tage danach – was kommt Ihnen in den Sinn?
Es war ein großartiges, jahrelang vorbereitetes Event. Politiker und Repräsentanten jüdischer Gemeinschaften weltweit waren gekommen, es war eine wundervolle Party. Aber diese fantastische Stimmung wurde sehr schnell durch die Anschläge von 9/11 zerstört. Wir werden uns immer daran erinnern, dass das Jüdische Museum Berlin eigentlich am 11. September 2001 seine Dauerausstellung hätte öffnen sollen. Das wird für immer mit diesem Datum verbunden sein. Die Realität ist immer unerwartet.

Die Ausstellung öffnete dann zwei Tage später, am 13. September. Wie haben Sie 9/11 erlebt?
Ich war in Berlin, wir haben die Bilder im Fernsehen gesehen. Es war ein Schock. Und ich habe spontan gesagt: »Ich muss zurück nach New York.« Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich wusste natürlich noch nicht, dass ich später nach New York zurückkehren und der Masterplaner für den Wiederaufbau von Ground Zero werden würde. Meine ganze Familie aus den USA war damals in Berlin, weil wir kurz vor der Eröffnungsgala des JMB die Batmizwa meiner Tochter gefeiert haben. Am 11. September saßen meine Freunde und meine Familie schon im Flugzeug auf dem Rückweg in die Staaten, aber die Flugzeuge konnten wegen der Anschläge nicht landen. So kehrten sie wieder zurück nach Berlin. In meinem Gedächtnis gehört all das zusammen. Es war eine sehr seltsame und sehr interessante Zeit.

Wo hat Ihre Tochter Batmizwa gefeiert?
In der Synagoge Oranienburger Straße. Es war die erste Batmizwa in dieser Synagoge seit 1933. Das war natürlich auch ein ganz besonderes Event.

Ausgehend von Ihrem ursprünglichen Architektur-Entwurf für den Wiederaufbau von Ground Zero: Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie heute dort sehen?
Ich bin sehr erstaunt, wenn man die Turbulenzen der Zeit und all die miteinander in Konflikt stehenden Meinungen und Interessen betrachtet, dass das Ergebnis doch im Großen und Ganzen dem entspricht, was ich ursprünglich im Wettbewerb gezeichnet habe. Es ist natürlich noch nicht komplett, Tower Nr. 2 ist noch nicht fertig, das Performing Arts Center ist im Entstehen. Aber ja, es ist etwas, das so ist, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie das Leben niemals als selbstverständlich betrachten. Ist das ein Gefühl, das jetzt in Corona-Zeiten stärker wird?
Für viele Menschen auf jeden Fall. Wir haben gesehen, wie kostbar und zerbrechlich das Leben ist und dass wir niemals eine Garantie darauf haben. Deshalb glaube ich, dass viele Menschen sich während der Pandemie viel stärker mit der Bedeutung des Lebens auseinandergesetzt haben als zuvor.

Sie verbringen jetzt viel mehr Zeit in Berlin als früher, um Zeit für Ihre Enkelkinder zu haben.
Natürlich, was kann wichtiger sein, als mit der Familie zusammen zu sein – und mit den vielen Freunden und Bekannten in Berlin, die wir schon seit Jahrzehnten kennen?

Wenn Sie die Situation während der Pandemie im vergangenen Jahr in Berlin und in New York vergleichen, dann war es in New York sicherlich schlimmer?
Ja, am Anfang auf jeden Fall. In New York war es eine Katastrophe. Viele waren krank, viele sind gestorben, und die Stadt war leergefegt, heimgesucht von einem unsichtbaren Feind. Aber große Städte wie New York und Berlin haben immer auch die Kraft, sich zu erholen. New York ist jetzt fast wieder wie vorher, obwohl die Stadt immer noch mit den Folgen der Pandemie zu kämpfen hat.

Zurück zum Jüdischen Museum Berlin: Ihre Architektur macht die »Voids« sichtbar, die Leerstellen, die durch die Schoa entstanden sind. Mehr als 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die jüdische Gemeinschaft immer noch nicht vollständig erholt. Ist das ein Grund, warum so viele jüdische Projekte gefördert werden – und warum das Jüdische Museum Berlin so erfolgreich ist?
Beim Jüdischen Museum Berlin geht es nicht darum, dass die Juden die Leerstellen füllen oder darüber nachdenken. Die Öffentlichkeit, das deutsche Volk, die Menschen, die hier leben, sie setzen sich mit den Lücken auseinander. Und die Leerstelle gehört nicht nur zur Tragödie des Völkermords, der vor gar nicht langer Zeit geschehen ist. Die Leerstelle wird bleiben, denn die Folgen der Geschichte sind nicht auslöschbar. Man muss sich ihr stellen. Und Deutschland tut das. Ein Jüdisches Museum zu bauen und andere Institutionen, die Geschichte anzuerkennen und Hoffnung für die Zukunft zu geben, all das ist für dieses Land sehr wichtig, und der Wille dazu ist sehr ausgeprägt.

Wir begehen derzeit ein Festjahr: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Wie spiegelt sich diese Geschichte in der neuen Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin wider, die 2020 eröffnet wurde?
Die neue Dauerausstellung ist eine unglaublich gut gelungene Transformation der alten Dauerausstellung von 2001. Ich ermutige alle Menschen, sich diese Ausstellung anzusehen, denn sie bildet jüdische Geschichte hervorragend ab. Sie ist sehr tief und gleichzeitig sehr modern.

Vor einigen Wochen waren Sie im Rahmen des Kultursommers des Jüdischen Museums Berlin bei einem Abend über den »Jewish Soundtrack«. Sie haben mehrere jiddische Lieder gewählt. Was bedeutet die Sprache Ihrer Kindheit für Sie? Sprechen Sie noch Jiddisch?
Natürlich – wann immer es möglich ist. Wir brauchen ein Revival des Jiddischen. Jiddisch ist nicht einfach nur eine Sprache. Es geht nicht nur um die Grammatik und die Worte. Diese Sprache transportiert tiefe jüdische Werte. Es war eine Sprache von Millionen – nicht nur der Religiösen, die sie heute noch sprechen, sondern auch von progressiven jüdischen Menschen. Und die Literatur, die Werke sind so reich. Wir kennen heute vor allem die Werke von Isaac Ba­shevis Singer, aber das ist längst nicht alles. Denken Sie zum Beispiel an seinen Bruder Israel Joshua Singer, den Autor von »Die Brüder Aschkenasi«, er schrieb vielleicht sogar noch besser. Und ich hoffe, dass Menschen Jiddisch in Zukunft nicht als tote, sondern als leben-
dige Sprache sehen. Heute können wir das auch in Israel beobachten. Ja, ich liebe jiddische Lieder, jiddische Literatur und Poesie, und ich lese sie, wann immer ich kann.

Ihre Eltern haben untereinander und mit Ihnen Jiddisch gesprochen?
Meistens Jiddisch, aber auch viele andere Sprachen. Meine Eltern waren Emigranten.

Sie haben Jiddisch auch lesen und schreiben gelernt?
Nicht als Teil meiner formellen Erziehung, aber als Teil meines Erwachsenwerdens. Ich habe regelmäßig den »Forverts« gelesen, in den 60er-Jahren gab es zahlreiche jiddische Zeitungen in New York. Es ist keine verlorene Sprache. Der Holocaust hat viel zerstört, aber die Sprache wird niemals sterben. Es liegt so viel Wahrheit und Schönheit in ihr. Vielleicht kann keine andere Sprache, weder Hebräisch, Englisch, Griechisch noch Latein, das ausdrücken, was Jiddisch kann.

Rosch Haschana steht vor der Tür. Was ist Ihr größter Wunsch für das neue Jahr?
Mein größter Wunsch? Ich hoffe auf Frieden, Gesundheit und Wohlstand. Ich hoffe, dass das Leben überall in der Welt an die erste Stelle gesetzt wird, allen Bedrohungen zum Trotz, denen die Gesellschaft ausgesetzt ist: nicht nur Antisemitismus, sondern auch Faschismus, Fanatismus und Rassismus. Ich glaube an die Demokratie. Sie ist schwierig und komplex, aber sie ist das beste aller möglichen Systeme. Ich glaube, dass Menschen, die sich um die Welt sorgen, sie auch zu einem besseren Ort machen können. Ich bin kein Pessimist, ich bin Optimist. Und ich denke, dass wir alle etwas Licht verbreiten können gegen die dunklen Kräfte, die immer da sind und darauf warten, ihren Schatten auf das Licht zu werfen.

Mit dem Architekten des Jüdischen Museums Berlin sprach Ayala Goldmann.

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