Musik

Die Karawane

Foto: ELYA YALONETSKY

Er steht am Bahnhof von Helsinki. Wenn man als Musiker aus dem Koffer lebt, schätzt man die Pünktlichkeit und den Komfort der finnischen Bahn. An diesem Abend treten sie in Lahti auf, der Stadt am Vesijärvi-See. Das Konzert in Helsinki, das hinter ihnen liegt, war gut besucht. Für Musiker keine Selbstverständlichkeit. »Es war ein ganz besonderer Abend. Die Leute schoben die Tische draußen zusammen, brachten Essen mit, sie tanzten und teilten alles«, sagt Mitia Khramtsov.

»Dobranotch« ist gut im Geschäft. Das Wort heißt auf Ukrainisch einerseits »gute Nacht« im Sinne von »schöne Träume«, anderseits markiert der Ausdruck im Genre Klezmer die Musikstücke am Ende einer traditionellen osteuropäisch-jüdischen Hochzeit. Schon immer sei er ebenso an Klezmer wie an Balkan Music interessiert gewesen, meint Mitia. Zu Beginn spielten sie auch mittelalterliche und russische Musik. »Auf dem ersten Album DIY gibt es noch eine westliche A- und eine östliche B-Seite.«

Zehn Alben brachte die Truppe in Russland heraus – dann überfiel Putin die Ukraine.

Die Geschichte der Band aus St. Petersburg reicht indes bis ins Jahr 1997 zurück. Damals zogen Mitia und ein Klarinettist nach Nantes in Frankreich. »Wir reisten als Straßenmusiker durch Europa, spielten Folk, Celtic, Balkan und Irish Music und blieben dann in Frankreich. Einige Freunde aus St. Petersburg zogen nach«, sagt Mitia.

So gründete sich die Gruppe, und Mitia begann, sich stärker mit seiner Herkunft und seinem jüdischen Erbe zu beschäftigen. »Meine Mutter ist halb jüdisch, und mein Vater ist halb jüdisch. Ich bin also zweimal halb jüdisch. Ich wollte diese Wurzeln, dieses Erbe auch musikalisch ausdrücken.«

Im Verlauf dieses Vierteljahrhunderts wechselten die Mitglieder der Band »mehrfach und aus verschiedenen Gründen«, und so ist Mitia das einzig verbliebene Gründungsmitglied. Die Musiker lebten seit 2000 wieder in St. Petersburg und machten sich international einen Namen. Sie traten auf der Fusion oder dem Rudolstadt-Festival in Deutschland auf, beim KlezKanada, dem Jewish Culture Festival in Krakau. Sie gewannen den Eisernen Eversteiner Publikumspreis 2017, den Russian World Music Award 2018 und den German Records Critic Award 2019. Zehn Alben brachte die Truppe in diesem irren Klezmer-Balkan-Mix heraus – und dann überfiel Wladimir Putin die Ukraine.

»Wir sind keine politische Band.«

Seit 2023 leben Mitja und die derzeitigen Mitglieder der Klezmer-Band Dobranotch nun in Deutschland. In Krefeld, zunächst acht Monate in einer Flüchtlingsunterkunft, inzwischen haben Mitia und seine Frau eine Wohnung und Nachwuchs bekommen. »Mein erstes Kind, eine Tochter, sie ist vor sechs Monaten in Deutschland geboren worden«, sagt der 51-Jährige stolz.

Der Entschluss zu emigrieren, war nicht einfach. »Wir waren nicht wirklich in Gefahr, wir sind keine politische Band. Aber es ist jetzt in Russland nicht gut, Künstler zu sein.« Zudem stammen viele Klezmer-Lieder aus dem ukrainischen Raum, und zunehmend sagten die Konzertveranstalter: »Bitte spielt keine ukrainischen Lieder, wir wollen keinen Ärger bekommen.« Und letztlich gebe es in Putins Russland »keine Freiheit mehr«.

Im Augenblick sei alles okay in Krefeld, aber Mitia liebäugelt schon mit Berlin, denn »da gibt es eine große jiddische Musikgemeinde«. Bereits jetzt besuchen sie die Stadt öfter. Am 15. September treten sie im Rahmen des Projektes »Impuls« in der Jüdischen Gemeinde auf. Davor gastieren sie noch in Italien, Schwerin (Windros Festival), Ratzdorf, Radebeul und im Museumsdorf Glashütte.

Seine Frau Jirmina Gordeienko ist ebenso Bandmitglied, gemeinsam versuchen sie gerade, für den Auftritt in Lahti am Abend per Handy einen Babysitter aufzutreiben. »Wir sind wie eine große Karawane«, lacht er. »Ich lerne gerade, Vater zu sein und trotzdem noch spielen und reisen zu können.«

Ein halbes Leben habe er nun Klezmer studiert, und ohne diese Auftritte zu leben, sei für ihn undenkbar. »Klezmer ist sehr tief und spirtituell. Diese Musik ist Seele und Tradition«, sagt Mitia über das Wesen des Klezmer, »und so ist es meine Musik geworden.«

6. September Schwerin (Windros Festival), 7. September Kajüte Ratzdorf, 8. September Weinberg Kultur Radebeul, 14. September Museumsdorf Glashütte, 15. September Jüdische Gemeinde Berlin

Meinung

Die Tränen des Kanzlers

Bei seiner Rede in München gab Friedrich Merz ein hochemotionales Bekenntnis zur Sicherheit jüdischen Lebens ab. Doch zum »Nie wieder dürfen Juden Opfer werden!« gehört auch, den jüdischen Staat nicht im Stich zu lassen

von Philipp Peyman Engel  17.09.2025

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Auszeichnung

Düsseldorfer Antisemitismusbeauftragter erhält Neuberger-Medaille

Seit vielen Jahren setze sich Wolfgang Rolshoven mit großer Entschlossenheit gegen Antisemitismus und für die Stärkung jüdischen Lebens in Düsseldorf ein, hieß es

 16.09.2025

Erinnerung

Eisenach verlegt weitere Stolpersteine

Der Initiator des Kunst- und Gedenkprojekts, Gunter Demnig aus Köln, die Stolpersteine selbst verlegen

 16.09.2025

Porträt der Woche

Passion für Pelze

Anita Schwarz ist Kürschnerin und verdrängte lange das Schicksal ihrer Mutter

von Alicia Rust  16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Sachsen-Anhalt

Erstes Konzert in Magdeburger Synagoge

Die Synagoge war im Dezember 2023 eröffnet worden

 15.09.2025

Thüringen

Jüdisches Bildungsprojekt »Tacheles mit Simson« geht erneut auf Tour

Ziel des Projektes sei es, dem Aufkommen von Antisemitismus durch Bildung vorzubeugen, sagte Projektleiter Johannes Gräser

 15.09.2025

Essen

Festival jüdischer Musik mit Igor Levit und Lahav Shani

Der Festivalname »TIKWAH« (hebräisch für »Hoffnung«) solle »ein wichtiges Signal in schwierigen Zeiten« setzen, hieß es

 15.09.2025