Porträt der Woche

»Die Geschichten weitergeben«

»Zuhören ist enorm wichtig«: Neu-Berlinerin Janine Cunea Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

»Die Geschichten weitergeben«

Janine Cunea führt für ihre Doktorarbeit Gespräche mit Holocaust-Überlebenden

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  19.01.2015 17:55 Uhr

Ich bin sowohl Enkelin als auch Tochter von Schoa-Überlebenden. Irgendetwas zwischen zweiter und dritter Generation. Man sagt ja, viele Kinder von Überlebenden ergreifen helfende Berufe: Sozialarbeiter, Therapeut oder Arzt. Mag sein, dass das auch in meine Berufswahl mit hineingespielt hat.

Zu Beginn meines Berufslebens habe ich in Offenbach Migranten im Bereich der beruflichen Bildung betreut, darunter viele arabisch- und türkischstämmige junge Erwachsene. Dort wurde mir klar, in welcher Perspektivlosigkeit viele Migranten leben. Drogen, Gewalt, Kriminalität – wir unterschätzen oft, wie wenige Möglichkeiten diese Jugendlichen geboten bekommen. Mit unseren Beratungen hingegen konnten wir dem zum Glück etwas entgegenstemmen. Vielleicht auch deshalb, weil wir einfach erst einmal nur zuhörten. Das war die wichtigste Erfahrung, die ich dort mitgenommen habe.

treffpunkt In der Sozialabteilung der jüdischen Gemeinde meiner Heimatstadt Frankfurt erfuhr ich zu dieser Zeit zufällig vom Treffpunkt für Schoa-Überlebende. Ich begann dort ein Praktikum. Ein paar Wochen, mehr nicht. Aber dann schloss ich die Menschen immer mehr ins Herz. Am Ende wurden daraus fünf Jahre, von 2007 bis 2012.

Zu dieser Zeit studierte ich auch Sozialpädagogik. Durch meine Erfahrungen beim Treffpunkt der Schoa-Überlebenden reifte langsam die Idee zur Doktorarbeit. Denn was in dem Treffpunkt passierte, fand ich so wichtig und spannend, dass ich unbedingt über die psychosoziale Betreuung von Schoa-Überlebenden schreiben wollte. Meine Doktoreltern Micha Brumlik und Lena Inowlocki haben mich von Anfang an sehr unterstützt. Als dann 2009 das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) gegründet wurde, konnte ich die Idee dank eines Stipendiums umsetzen.

Insgesamt habe ich 36 Interviews mit 16 Überlebenden geführt. Mir war klar, dass es einer der letzten Zeitpunkte war, mit diesen Menschen sprechen zu können. Die meisten von ihnen kommen aus Polen, Serbien, Tschechien oder Rumänien. In dem Treff können sie sich begegnen und werden psychosozial betreut. Natürlich reden sie nicht dauernd über die Schoa, aber es kann passieren, dass Gefühle ganz unvermittelt hochgespült werden: Eben noch erzählen sie von Kindern, Enkeln oder dem Wetter, dann plötzlich von der Schoa.

intensiv Die Leute dort haben unter unterschiedlichen Bedingungen überlebt, manche im Versteck, andere als Partisanen, viele im KZ. Im Alter brechen die Traumatisierungen häufig auf: Die Kinder, die man nicht belasten wollte, sind aus dem Haus, das aktive Berufsleben ist vorbei, nahestehende Menschen erkranken oder sterben – da kommt es häufig zu Retraumatisierungen. Der Treffpunkt fängt all das auf. Die Überlebenden können dort Hilfe in Anspruch nehmen. Sozialarbeiter und Psychologen kümmern sich und haben immer ein offenes Ohr.

Aus meiner Sicht ist der Treffpunkt auch eine Art Anerkennung. Viele Überlebende haben ihre Geschichte nie richtig erzählt. Anfangs dauerte es eine Weile, bis sie mich angenommen hatten, dann war ich nicht mehr wegzudenken. Ich wurde nach Hause eingeladen, bewirtet, stellte Fragen und hörte zu. Nach und nach entwickelten wir eine sehr enge Bindung, eine Art verschränktes Generationenverhältnis, würde ich sagen.

Die Zeit war sehr intensiv, die Erlebnisse währenddessen erschütternd. Ein Interviewpartner zum Beispiel erlitt drei Tage nach unserem Gespräch einen Infarkt, den er zum Glück gut überstand. Eine andere Überlebende berichtete vom Krankenhaus im Warschauer Ghetto: Um die halb verhungerten Kinder vor der Deportation zu bewahren, verabreichte sie ihnen ein tödliches Mittel. Andere erzählten, wie sie im Konzentrationslager Auschwitz jegliches Zeitgefühl verloren und davon träumten, in einem Bett zu schlafen.

Verantwortung Es war oft schwer auszuhalten, die Interviewpartner empathisch zu begleiten und zugleich in die Rolle der Interviewerin zu schlüpfen. Ich spürte auch sehr viel Verantwortung. Distanzlosigkeit macht die Sache einerseits schwieriger, weil mir die Menschen persönlich nahegehen. Andererseits hat die Nähe auch die Qualität der Gespräche beeinflusst. Vor allem war es für mich jedoch ein großes Geschenk, diesen Menschen begegnet sein zu dürfen.

Auch meine Eltern und Großeltern habe ich oft zur Schoa befragt – Antworten bekam ich nur wenige. Meine Eltern kommen ursprünglich aus Rumänien, sie lernten sich in Bukarest kennen. Meine Mutter kam 1963 mit ihrer gesamten Familie nach Frankfurt: Eltern, Schwester und Großeltern. Aus Liebe zueinander flüchtete 1969 auch mein Vater aus Rumänien. Illegal, unter Gefahr für sein Leben und mit falschen Papieren.

Später als Erwachsene bin ich mit meinem Vater nach Rumänien gereist. Ich wollte sehen, woher er und Mama kommen. Dieses Interesse für jüdische Lebensgeschichten hatte ich schon immer, vor allem wegen der vielen Brüche, die es auch in meiner eigenen Familie gibt.

wurzeln Meine Mutter ist eine geborene Levy, mein Vater ein Cohen. Seine Vorfahren im zaristischen Russland änderten den Namen in Cunea, um den erstgeborenen Sohn vor der Einberufung zu schützen. So erzählt es jedenfalls die Familienlegende. Die Familie meines Großvaters stammt aus Bessarabien, das sind meine aschkenasischen Wurzeln. Meine Mutter hingegen hat sefardische Vorfahren, deren Weg sich über Bulgarien, Griechenland und die Türkei zurückverfolgen lässt.

Meine Großmütter haben die Schoa in Rumänien überlebt, zusammen mit ihren Kindern. Meine Mutter wurde 1944 geboren, mein Vater 1933. Child Survivors haben eine andere Problematik als erwachsene Überlebende, da sie sich oft nicht erinnern und damals keine Sprache hatten. Dabei brauchen gerade sie auch Unterstützung. Das Gleiche gilt für die zweite Generation – für sie gibt es keine Angebote, ob therapeutisch oder Gruppentreffs. Es ist aber wichtig, denn schon in den nächsten Jahren werden keine Überlebenden mehr da sein.

Dann müssen wir ihre Geschichten erzählen und weitergeben, ebenso wie den Ansporn daraus: Trotz all des Schrecklichen und Unmenschlichen, das sie erlebt haben, sind sie so beispielhaft geworden –menschlich, weise, gütig, tolerant. Das möchte ich in meiner Doktorarbeit zum Ausdruck bringen.

einsatz Manchmal werde ich nach der persönlichen Lehre aus meinen Gesprächen gefragt. Meine Antwort ist: sich immer für Freiheit und Gerechtigkeit einzusetzen und die Demokratie zu verteidigen. Außerdem sehe ich durch die Gespräche Selbstverständlichkeiten mit anderen Augen – in einem Bett zu schlafen, ein Dach über dem Kopf zu haben. Anders als meine Eltern, die Migration, Kommunismus und Schoa erlebt haben, kann sich unsere Generation glücklich schätzen, ohne Kriege aufgewachsen zu sein.

Durch meine Arbeit hat sich auch mein Bewusstsein für Diskriminierte, Außenseiter und Minderheiten noch vertieft. Doch ich glaube, viele Menschen teilen heute dieses Bewusstsein. Das macht mir Mut.

Aufgezeichnet von Katharina Schmidt-Hirschfelder.

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