85 Gramm ist jedes Exemplar schwer, 78 Autoren haben bisher an ihnen gearbeitet. 26 Frauen ist ein Band gewidmet. Am häufigsten werden Mediziner, Psychologen, Musiker und Entertainer porträtiert. Als komplette Reihe benötigt sie nur 130 Zentimeter Platz im Regal: die Buchreihe »Jüdische Miniaturen«. Nun liegt der 200. Band (Frank Stern über Franz Rosenzweig) druckfrisch auf dem Tisch – Grund genug, dies in der Mendelssohn-Remise zu feiern, ein paar Geständnisse abzulegen und Geheimnisse auszuplaudern.
Mit einer »grenzenlosen Naivität und einer Portion Größenwahn« habe sie vor acht Jahren den Verlag Hentrich und Hentrich, in dem die Reihe erscheint, übernommen, so Verlegerin Nora Pester. Damals habe sie gedacht: »Nach dem 100. Band ist Zeit für etwas Neues.« Danach wollte sie diese Reihe beenden. Doch dann sei ihr klar geworden, wie wichtig und unverzichtbar die »Jüdischen Miniaturen« sind. Bei einer Buchmesse habe sie einmal erlebt, dass einer anderen Verlegerin der Verlag Hentrich und Hentrich nicht geläufig war, »trotz 50 Neuerscheinungen pro Jahr«. Aber die »Jüdischen Miniaturen«, die kenne sie, habe die Dame gesagt, erzählt Pester und lacht.
schicksale Wenn die Verlegerin heute über den Jüdischen Friedhof Weißensee geht und die Inschriften der Grabsteine betrachtet, hat sie 200 Porträts und Geschichten im Kopf. Dann treffe sie »alte Bekannte«, sieht deren Gesichter, kennt deren Schicksale. »An diesem Ort erfahre ich immer wieder, dass noch viele Geschichten warten«, sagt sie. Doch die kleinen Bände hätten etwas bewirkt.
So sei etwa der Begründer der Gastrologie, Ismar Boas (Band 96), wieder ins Bewusstsein gerückt worden, und der neue Gedenkort Moabit sei auch auf die Recherche Alfred Gottwalds zurückzuführen, der die Bände 150, 155 und 166 beisteuerte. Als bekennender Fußballfan habe sie eine Schweigeminute für Julius Hirsch (Band 51) vor einem Spiel in Leipzig besonders bewegt. »Die Bände erinnern an die Menschen, nicht an die Opfer«, meint Pester.
»Die Reihe will auf das über Jahrhunderte gelebte deutsch-jüdische Zusammenwirken hinweisen«, sagt der Herausgeber und Gründungsdirektor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, Hermann Simon. Die Miniaturen seien »weit von einer Gesamtschau der jüdischen Welt entfernt«; sie wollen allenfalls »Schlaglichter auf den einen oder anderen Aspekt werfen und sind so Momentaufnahmen aus dem großen Fundus deutsch-jüdischer Beziehungsgeschichte«.
erfolgsschlager Anfang 2003 hätten er, der mittlerweile verstorbene Verleger Gerhard Hentrich und sein Mitarbeiter Klaus-Peter Gerhardt in Simons damaligem Dienstzimmer gesessen und überlegt, welche weiteren Projekte sie realisieren könnten, ließ er die Anfänge der Buchreihe nun Revue passieren. »Vermutlich war es Anfang einer neuen Woche, und der Verleger Hentrich, damals schon Ende 70, hatte gerade das Wochenende in selbst gewählter Abgeschiedenheit überstanden und konnte es gar nicht erwarten, loszuwerden, was ihm in den vergangenen Tagen eingefallen war: ›Wir brauchen eine Reihe mit kleinformatigen Büchern, die man in die Tasche stecken kann‹«, erinnert sich Simon. Das war die Geburtsstunde des heutigen Erfolgsschlagers. Die ersten vier Miniaturen wurden im September 2003 im Centrum Judaicum vorgestellt.
»Wir haben etwa 20 Titel bei uns im Bücherregal«, sagt Peter Kirchner, ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins. Vor allem das Buch über die Synagoge Rykestraße habe er gern gelesen. Die Favoriten des Publizisten Micha Brumlik sind die Bände über Moses Mendelssohn, Louis Lewandowski und den Zentralrat. Frank Stern, Verfasser des 200. Bandes, hat die Bände thematisch in seine Regale einsortiert. Die unterschiedlichen Farben der Buchrücken leuchten an verschiedenen Stellen.
»Es vergeht eigentlich keine Woche, in der wir nicht über die Miniaturen sprechen, Korrekturen und Umbrüche lesen«, sagt Simon. Nach der Miniatur ist vor der Miniatur.