Porträt der Woche

Der singende Schneider

»Man muss sich einfühlen und sein Bestes geben, ob beim Singen oder Schneidern«: Der Schwede Allan Edelhajt (38) lebt in Berlin. Foto: Gregor Zielke

Porträt der Woche

Der singende Schneider

Allan Edelhajt entwirft Maßanzüge und springt als Chasan am Fraenkelufer ein

von Philipp Fritz  29.08.2016 18:37 Uhr

Ich wohne seit beinahe drei Jahren in Berlin, allerdings schon länger in Deutschland, nämlich seit 13 Jahren. Ich lebe also bereits einen großen Teil meines Lebens hierzulande. Ich bin heute 38 Jahre alt. Ursprünglich komme ich aus Göteborg aus Schweden. Warum und wie es mich in die deutsche Hauptstadt verschlagen hat? Am Anfang stand meine Ausbildung zum Opernsänger. Ich habe damals ein Stipendium bekommen und konnte an die Deutsche Oper nach Berlin gehen. Ich war also schon einmal hier.

Nach meiner Ausbildung bin ich dann nach Augsburg gezogen und habe dort am Stadttheater gearbeitet. Ich wurde auch Chasan, also Vorbeter, in der Synagogengemeinde in Augsburg. Drei Jahre habe ich dort gelebt. Bevor es für mich zurück nach Berlin ging, habe ich Stationen in München, Frankfurt am Main und in Mannheim gemacht. Man kann sagen: Ich bin gut rumgekommen in Deutschland. Meine Frau war der Grund, nach Berlin zurückzuziehen. Ich habe sie hier kennengelernt, sie ist Berlinerin. Seit zwei Jahren sind wir verheiratet, es ist noch ganz frisch.

Tailor on the Road Mein zweiter Beruf ist der des Schneiders. Ich fertige Anzüge nach Maß. Ich sage immer wieder gerne, dass ich ein singender Schneider bin. Mein kleines Unternehmen heißt »Tailor on the Road«, wörtlich übersetzt: »Schneider auf der Straße«, gemeint ist »unterwegs«, weil ich das ganze Land bereise. Ich fahre zu meinen Kunden nach Hause oder besuche sie im Büro. Ich komme dorthin, wo es ihnen am besten passt, um Maß zu nehmen. Natürlich können sie auch zu mir in meinen Showroom nach Berlin kommen.

Anzüge sind eine meiner Leidenschaften. Aber die Idee, Maßanzüge zu machen und zu verkaufen, ist auch daraus erwachsen, dass es sehr schwierig ist, vom Singen allein zu leben. Ich hatte als Opernsänger nicht jeden Tag Auftritte, ich stand zu selten auf der Bühne, um ausschließlich davon meinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Bereits in Schweden, bevor ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich Betriebswirtschaft studiert. Ich habe dann neben dem Singen im Einzelhandel gearbeitet, auch später in allen deutschen Städten, in denen ich gelebt habe. Ich hatte in dem Zusammenhang verschiedene Jobs. So habe ich etwa als Store-Manager gearbeitet oder als Personalverantwortlicher.

Es hat mir Spaß gemacht, und ich habe schon früh daran gedacht, mich selbstständig zu machen. Mein Wunsch war es, mit meiner eigenen Geschäftsidee nah am Kunden zu sein und Service und Qualität zu bieten. In meinen Augen müssen Anzüge sich dem Körper anpassen und nicht umgekehrt der Körper dem Anzug. Wenn man einen Anzug von der Stange kauft, dann muss man ihn vielleicht fünfmal ändern lassen, und er passt dann immer noch nicht richtig. Den Stoff, das Innenfutter kann man auch nicht auswählen. Kurzum: Ich möchte Anzüge machen, so wie es früher einmal üblich war, mit Sorgfalt, Liebe zum Detail und einem guten Service.

handwerk Übrigens ist das Singen für mich gar nicht so weit weg von der Schneiderei. Beides ist ein Handwerk und erfordert Kreativität. Man muss sich einfühlen und dann sein Bestes geben.

Inwieweit die Tatsache, dass ich Jude bin, bei meiner Arbeit eine Rolle spielt, kann ich nicht so genau sagen. Aber dass ich Jude bin, ist wichtig. Ich bin traditionell-konservativ, das sind meine Wurzeln. Mir ist es wichtig, Traditionen und meine Jüdischkeit zu leben. Diese möchte auch einmal weitergeben an meine Nachkommen. Deswegen gilt es jetzt, Traditionen zu pflegen.

Nachdem ich in Augsburg als Chasan tätig war, habe ich dieses Amt auch in München ausgeübt – dort habe ich sogar CDs aufgenommen – und hier in Berlin, in der Synagoge am Fraenkelufer in Kreuzberg. Ich gehe regelmäßig zu Gottesdiensten, zum Beispiel in die Synagoge in der Joachimsthaler Straße. Das sind alles Dinge, die ich so schon als Kind erfahren und gemacht habe: Traditionen und Feiertage lebe ich kontinuierlich. Ich komme aus einem konservativen Haushalt.

Meine Eltern sind 1969 von Polen nach Schweden ausgewandert – nach den März-Unruhen von 1968, nach denen viele Juden im Zuge einer antisemitischen Kampagne aus dem Land gedrängt wurden. Ich bin also kulturell und religiös jüdisch, meine Frau auch. Mir ist es wichtig, dass Traditionen in der Familie gelebt werden, nicht nur von einem Familienmitglied, sondern von allen.
Meine Herkunft oder meine Traditionen sind mir jedoch nicht direkt Inspiration. Die hole ich mir ganz einfach zum Beispiel auf Messen. Ich sehe mir Stoffe, Schnitte und Farben an.

showroom Grundsätzlich ist mein Ansatz der, dass man eine Person, für die man einen Anzug anfertigt, ein Stück weit kennenlernen muss, meistens ohne sie wirklich tiefgründig kennenzulernen: Man muss sie sozusagen scannen. Damit meine ich, dass ich mich nach dem Beruf erkundige und nach bestimmten Vorlieben. Daran bestimme ich, welcher Stil zu der Person passt.

Über Preise spreche ich nicht gerne. Nur so viel: Es fängt bei 700 Euro an und ist nach oben hin offen. Der Preis hängt vor allem von der Wahl des Stoffes ab, aus dem ich dann das Jackett und die Hose mache. Kunden können bei mir auch Hemden oder Accessoires wie Hüte bekommen, aber ich verkaufe hauptsächlich Anzüge, Mäntel und Smokings.

Ich empfange gerne Kunden in meinem Showroom in Berlin, muss aber manchmal daran denken, dass mein Showroom auch woanders hätte sein können. Immerhin bin ich nur wegen meines Stipendiums überhaupt in Deutschland gelandet. Ich hoffe, niemand versteht mich falsch, es gefällt mir sehr gut hier. Aber ich glaube eben, dass man überall gut leben kann. Aber nun habe ich mich niedergelassen, bin verheiratet. Berlin ist schon toll. Man hat hier so viele Möglichkeiten.

Die Stadt ist jung, sie boomt und ist multikulturell. Auch das jüdische Leben ist vielfältig, und es gibt hier enorme kulturelle Möglichkeiten. Meine Lieblingsstadt in Deutschland bleibt aber München, ich bin ein großer Fan bayerischer Lebensart. Während ich eine meiner Deutschlandstationen dort gemacht habe, habe ich mich wunderbar zurechtgefunden und die Stadt einfach schätzen gelernt. München ist kleiner und ruhiger als Berlin, hier kann es einem manchmal schon zu viel werden, um ehrlich zu sein.

Man könnte glauben, dass München ein guter Standort für mein Geschäft wäre. Nun, in der bayerischen Hauptstadt leben viele gut situierte Leute, die sicher gerne maßgeschneiderte Anzüge tragen, aber ich kann mich hier in Berlin nicht beklagen.

Zu meinen Kunden zählen nicht nur Geschäftsleute, sondern auch Ärzte oder Anwälte, aber auch junge Leute, die einfach mal einen passenden Anzug haben wollen und bereit sind, dafür etwas tiefer in die Tasche zu greifen.

service Einschränken muss ich meinen Kundenkreis dann aber doch: Ich mache keine Stücke für Frauen. Frauenanzüge zu schneidern, ist sehr schwierig wegen der Oberweite. Ich weiß vielleicht, wie etwas bei einer Frau sitzen muss, aber ich kann es nicht nachfühlen, ich bin eben keine Frau, deswegen lasse ich die Finger davon.

Ich würde auch nicht zu einer Frau gehen und mich vermessen lassen. Ich glaube, dass Männer bessere Männerschneider und Frauen bessere Frauenschneiderinnen sind. Leider ist es so, dass die meisten Maßschneider sich auf Männer konzentrieren, ich schätze, dass es ungefähr 90 Prozent sind. Das ist schade. Vielleicht ändert sich das bald.

Es gibt viele Maßschneider in Berlin. Die Konkurrenz ist zwar groß, aber ich habe eine Nische gefunden: Dadurch, dass ich zu meinen Kunden gehe, dorthin, wo sie sind, ins Büro oder nach Hause, liefere ich einen besonderen Service.

Nach getaner Arbeit liefere ich ihnen aber auch das Produkt. Viele wissen diesen Service zu schätzen. Das freut mich sehr und gibt mir das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung war, Schneider zu werden.

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