Porträt der Woche

Der Engagierte

»Ich bin in erster Linie ein Mensch, dann Jude und schließlich Deutscher«: Alexander Tsyterer (20) Foto: privat

Porträt der Woche

Der Engagierte

Alexander Tsyterer ist in der Jungen Union, Vorbeter und studiert in Chemnitz

von Christine Schmitt  30.03.2024 21:46 Uhr

An einem Abend standen ein Freund von mir und ich an einer Haltestelle und warteten auf den Bus, der mich nach Hause bringen sollte. Wir waren guter Laune und lachten viel.

Aber dann fiel ein Bus nach dem anderen aus, stattdessen kamen Kolonnen von Polizeiautos. Und schließlich sah ich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Wagen sitzen – nach der Hetzjagd, die von rechten und rechtsextremen Gruppen initiiert wurde und sich gegen Menschen mit Migrationshintergrund sowie Flüchtlinge richtete, besuchte sie Chemnitz. Das war im Herbst 2018, kurz nach dem tödlichen Angriff auf einen Chemnitzer.

Dabei wurde auch das jüdische Restaurant Schalom angegriffen. Es war für mich ein Schock. Ich spürte, dass es mir wichtig wurde, mich politisch zu engagieren – und trat schließlich in die Junge Union (JU) ein. Mir sind die Themen wichtig, die die CDU und ihre Jugendorganisation vertreten. Antisemitismus zu bekämpfen steht beispielsweise ganz oben auf ihrer Agenda. Als ich meinen Eltern von meinem Eintritt in die Junge Union berichtete, sagten die nur, dass ich bloß kein Parteisoldat werden solle. Sie sind eher unpolitisch. Eigentlich hätte ich mich schon gern früher politisch engagiert, aber die Themen haben mich nicht so angesprochen.

Ich widme mich der Sensorik und der kognitiven Psychologie.

Mein Vater wurde in Russland geboren, meine Mutter in Czernowitz in der Ukraine. Da die Luft im Norden Russlands schlecht war, zog mein Vater schon als Kind mit seiner Familie in die Ukraine, wo sich meine Eltern später kennenlernten. Ich habe russische, weißrussische, moldawische und ukrainische Wurzeln. Zusammen emigrierten sie als Erwachsene mit meinem großen Bruder, der damals noch klein war, nach Chemnitz. Hier fühlen sie sich sehr wohl – auch weil die Stadt sie an ihre Heimat Czernowitz erinnert.

Mein Bruder studiert mittlerweile in Duisburg Medizin, aber ich wollte in Chemnitz bleiben. Hier habe ich mich an der Uni eingeschrieben, ich widme mich der Sensorik und der kognitiven Psychologie.

Gelegentlich bin ich als Vorbeter in der Jüdischen Gemeinde aktiv und habe den Verband »Jüdische Allianz Mitteldeutschland«, kurz JAM, gegründet, der für junge jüdische Studierende sowie Young Professionals im Alter von 18 bis 35 aus den Bundesländern Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen offen ist.

In der Schule sagten meine Kameraden immer, ich wäre Russe. Dabei habe ich einen ukrainischen Pass. Meine Eltern betonen, dass ich Jude bin. Ich finde, ich bin in erster Linie ein Mensch, dann Jude und schließlich Deutscher. Groß geworden bin ich vor allem mit der Auffassung des Judentums als kultureller Identität. Klar, wir feiern die jüdischen Feiertage, aber ich bin nicht so krass religiös, nutze beispielsweise das Handy auch am Schabbat. Auch lebe ich nicht koscher.

Als Sohn einer typischen jüdischen Familie habe ich auch Klavier gelernt.

Mit 16 habe ich nicht nur angefangen, mich politisch zu engagieren, sondern ich besuchte von da an die Synagoge, vor allem das Jugendzentrum, häufiger. Ab diesem Moment an, begann ich, mich mit Religion zu befassen. Damals, am Ende meines Abiturs, wurde Israel heftigst bombardiert, worüber ich mich sehr aufregte – auch über den Umgang mit diesem Thema in Deutschland. Bei einem Schabbaton in Berlin sah ich Anna Staroselski und schrieb sie später an. Von ihr habe ich mich inspirieren lassen, mich gegen Antisemitismus einzusetzen und einen Studierendenverband in Ostdeutschland zu gründen.

Da es hier kaum Strukturen dafür gab, schlossen sich die jüdischen Studierenden aus Thüringen, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Brandenburg zu einer Allianz zusammen. Zu dritt starteten wir, nun sind wir um die 60 Mitglieder. Bei der Gründung, kurz nach dem 7. Oktober, zählten wir noch 30 Leute. Wir sind also rasant gewachsen. Nach unserem Zusammenschluss gründeten sich auch unsere Kollegen aus dem Saarland und Rheinland-Pfalz zu dem Verband »Hinenu«. Seitdem repräsentieren wir mit den anderen Studierendenverbänden und dem JSUD das gesamte Gebiet Deutschlands, worauf wir stolz sein können. Das Ziel der Gründung von JAM ist, dass wir gern zeigen wollten, dass es auch in den neuen Bundesländern eine vielfältige jüdische Infrastruktur gibt, dass man hier gut leben kann. Vielleicht muss es nicht immer Berlin sein?

Jüngst haben wir einen Brief an die Rektorin der Leipziger Uni geschrieben. Denn wir haben Angst, dass wir ein Berlin 2.0 auch bei uns erleben können. Die Leipziger Uni ist stark links, und der Studierendenrat vergibt Räume an pro-palästinensische Gruppen, die tatsächlich der Hamas zuzuordnen sind. Sorge bereitet uns die einseitige Darstellung Israels und der daraus erwachsende Antisemitismus. Die Rektorin lud uns zu einem Gespräch ein. Es war ein guter Austausch, bei dem Themen wie die Aufgaben für den neu ernannten Antisemitismusbeauftragten oder verstärkte Aufklärungsarbeit diskutiert wurden.

Mein Tag beginnt mit einem schwarzen Tee, und dann fange ich an, meine To-do-Liste abzuarbeiten.

Doch eigentlich habe ich mich schon früher engagiert. Meine Geschichtslehrerin leitete eine Schul-AG, wo man sich mit der Geschichte der Schule befasste und Stolpersteine putzte. Ein Satz von ihr hat mich besonders geprägt: »Wir Älteren gehen irgendwann – ihr bleibt und könnt etwas ändern«, sagte sie. So recherchierten wir in unserer Schulbibliothek die Biografien von Ermordeten und ließen Stolpersteine verlegen. Anhand meiner Familiengeschichte und des Gedenksteins vor meinem Gymnasium mit der Inschrift »Sie starben, damit ihr weiterlebt« setze ich mich deshalb für die Demokratie und Erinnerungskultur ein.

Mein Tag beginnt mit einem schwarzen Tee, und dann fange ich an, meine To-do-Liste abzuarbeiten, wie zum Beispiel, mich auf die Prüfungen vorzubereiten. Manchmal vertiefe ich mich in die Religion, um besser für die Gottesdienste vorbereitet zu sein, die ich etwa zweimal pro Monat leite.

Nun mache ich aber erst einmal Pause und reise nach Irland. Die vergangenen Wochen waren für mich sehr anstrengend, da ich an der Uni meine Prüfungsphase hatte. Eigentlich hatte ich von morgens bis abends ein Buch in der Hand, um zu lernen. Ich hoffe auf mehr Zeit für mich.

Die vergangenen Wochen waren zwar vom Lernen geprägt, aber nach der Uni sind wir anschließend gemeinsam noch etwas trinken gegangen. Das war wunderbar. Man muss sich auch verwöhnen lassen können. In Irland will ich mein Englisch verbessern. Die Sprache brauche ich, denn viel Pflichtlektüre in meinem Studium ist in Englisch verfasst worden. Russisch spreche ich fließend, Ukrainisch kann ich verstehen.

Mein Studienfach »Sensorik und kognitive Psychologie« bietet eine einmalige Kombination aus physikalischen und psychologischen Inhalten und führt zu einem grundlegenden Verständnis technischer Sensorik, menschlicher Wahrnehmung sowie natürlicher und künstlicher kognitiver Systeme. Nach meinem Abschluss kann ich die Wechselwirkung von Mensch und Technik gestalten, die in allen Lebensbereichen immer mehr an Bedeutung gewinnt. In unserer vernetzten Welt mit ihren wachsenden Datenmengen spielt das Verständnis der Interaktion zwischen den Sensoren, die die Daten erfassen, und dem Menschen, der damit umgehen muss, eine immer größere Rolle – ob autonome Fahrzeuge und Assistenzsysteme, mobile Roboter, die Steuerung von komplexen Produktionsprozessen oder auch die automatisierte Interaktion mit Kunden am heimischen PC. Immer häufiger hängt der Erfolg vom Verständnis sowohl der technischen als auch der menschlichen Seite ab.

Als Sohn einer typischen jüdischen Familie habe ich natürlich auch Klavier gelernt. Dies steht heute noch in meinem Zimmer. Ich besuche gern Museen und schaue mir Kunst an. Außerdem bin ich doch einigermaßen sportlich und trainiere Capoeira sowie auch Brazilian Jiu Jitsu. Letzteres ist die Kunst der waffenlosen Selbstverteidigung, die ihren Ursprung in Japan hat, jedoch stark von brasilianischen Entwicklungen geprägt ist. Capoeira ist auch eine brasilianische Kampfkunst, aber mit vielen Tanzelementen. Ab und zu jogge ich und habe festgestellt, dass der Ausdauersport mir guttut. Man muss nicht nur stark im Geist, sondern auch im Körper sein.

Worauf ich mich freue, wenn ich aus Irland zurück bin, ist die Zusammenarbeit mit den Aktiven verschiedener Organisationen. Zum Beispiel stellen wir zusammen mit der »Fachstelle für Antisemitismus Brandenburg« den Jüdischen Salon auf die Beine. Dabei treffen sich jüdische Akteure und diskutieren über ein bestimmtes Thema aus unserer Community. Das Ziel ist es, Ideen oder Verbesserungsvorschläge der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft zu vermitteln. Meine Tage sind also gut gefüllt – Langeweile kenne ich nicht.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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