Diskussion

Der bessere deutsche Staat

Podium mit Oren Osterer, Annette Leo, Juna Grossmann, Michael Wuliger, Ellen Presser (v.l.) Foto: Marina Maisel

Seit 1988 gibt es eine stete Zusammenarbeit zwischen dem Kulturzentrum der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und der Münchner Volkshochschule (MVHS). Dazu gehörte zuletzt die Ausrichtung einer Gesprächsrunde über »Das Experiment: Deutschland und die Demokratie« im Jüdischen Gemeindezentrum. Mit dem Schwerpunkt »Jüdisches Leben in Ost und West nach 1945« eröffnete sich ein weites Feld von Brüchen und Aufbauversuchen hüben und drüben.

Susanne May, Programmdirektorin der MVHS, räumte in ihrer Begrüßung einen blinden Fleck ein. Erst 2019 erfuhr sie, »dass nicht allein in Westdeutschland, sondern auch in der DDR antisemitische Denkmuster fortlebten und das Verhältnis der Staatsführung zu den Juden im Land zwischen repressivem Vorgehen und schlichter Ignoranz schwankte«.

bilanz Die Bilanz des selbst ernannten »antifaschistischen« Staats sei erschütternd, aber auch der Befund nach 30 Jahren Wiedervereinigung sei ambivalent. Denn einerseits gebe es »im Osten und im Westen Deutschlands wieder ein reiches jüdisches Leben«, und andererseits, so fuhr May fort, beobachte man mit Sorge, dass kaum ein Tag ohne antisemitische Vorfälle vergeht.

Also reichlich Stoff für eine Gesprächsrunde. An ihr nahm die Autorin und Netzkolumnistin Juna Grossmann, Jahrgang 1977, teil, die als Einzige der geladenen Gäste auf dem Podium in Ost-Berlin geboren wurde.

Mit ihr tauschten sich die Journalistin Annette Leo, 1948 in Düsseldorf geboren, doch nach der Übersiedlung der Eltern 1952 nach Ost-Berlin erst einmal in kommunistischer Familientradition aufgewachsen, der Historiker und Politologe Oren Osterer, dessen Eltern in Israel aufwuchsen und der in München über »Das Israelbild in Tageszeitungen der DDR« promovierte, sowie der Journalist Michael Wuliger aus.

Er wurde 1951 in London geboren, wuchs in Wiesbaden auf, kennt Berlin aus den 70er-Jahren und erlebt es seit 1990 kontinuierlich. Würden sich mehr an seinen 2009 veröffentlichten »koscheren Knigge« halten, um »trittsicher« deutsch-jüdische Fettnäpfchen zu vermeiden, hätte er nicht unerschöpflich Stoff für seine wöchentliche Kolumne »Wuligers Woche« in der Jüdischen Allgemeinen.

wiedervereinigung Durch das Dickicht der Zeitläufte lotste Moderatorin Ellen Presser ihre Gesprächspartner über vier Stationen: vom Blick zurück auf die unterschiedliche Situation in Ost und West vor 1989 über die Wahrnehmung der Wiedervereinigung aus jüdischer Sicht und die Auswirkungen der Zuwanderung bis zu einem Blick in die Zukunft.

Juna Grossmann schlug das in ihrer Familie geschlossene Kapitel Judentum wieder auf und positionierte sich klar mit ihrem Buch Schonzeit vorbei. Über das Leben mit dem täglichen Antisemitismus. Annette Leo stieß 1986 zur Gruppe »Wir für uns«, in der Nachkommen aus jüdischen Familien ein Forum fanden.

Sie fühlt sich dem Verfolgungsschicksal ihrer beiden jüdischen Großväter verbunden, doch ihre Identität sei eher eine in einem Zwischenraum. Wuliger ist bis heute begeistert von der Zuwanderung, weil sie einer überalterten Gemeinschaft nicht nur demografisch guttat, sondern dank der ehemaligen Rotarmisten ein gewisses Kämpfertum mitbrachte. Oren Osterer führt diesen Gedanken weiter. Statt sich in eine Opferrolle zu begeben, brauche es Kämpfermentalität, um den aktuellen Anfeindungen zu begegnen.  ikg

Jom Haschoa

Geboren im Versteck

Bei der Gedenkstunde in der Münchner Synagoge »Ohel Jakob« berichtete der Holocaust-Überlebende Roman Haller von Flucht und Verfolgung

von Luis Gruhler  05.05.2025

Berlin/Potsdam

Anderthalb Challot in Apartment 10b

In Berlin und Potsdam beginnt am 6. Mai das Jüdische Filmfestival. Die Auswahl ist in diesem Jahr besonders gut gelungen

von Katrin Richter  05.05.2025

Sehen!

Die gescheiterte Rache

Als Holocaust-Überlebende das Trinkwasser in mehreren deutschen Großstädten vergiften wollten

von Ayala Goldmann  04.05.2025 Aktualisiert

Nachruf

»Hej då, lieber Walter Frankenstein«

Der Berliner Zeitzeuge und Hertha-Fan starb im Alter von 100 Jahren in seiner Wahlheimat Stockholm

von Chris Meyer  04.05.2025

Essay

Das höchste Ziel

Was heißt es eigentlich, ein Mensch zu sein? Was, einer zu bleiben? Überlegungen zu einem Begriff, der das jüdische Denken in besonderer Weise prägt

von Barbara Bišický-Ehrlich  04.05.2025

Zusammenhalt

Kraft der Gemeinschaft

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern feierte das Fest der Freiheit im Geiste von Tradition und Herzlichkeit

von Rabbiner Shmuel Aharon Brodman  03.05.2025

Porträt der Woche

Die Zeitzeugin

Assia Gorban überlebte die Schoa und berichtet heute an Schulen von ihrem Schicksal

von Christine Schmitt  03.05.2025

München

Anschlag auf jüdisches Zentrum 1970: Rechtsextremer unter Verdacht

Laut »Der Spiegel« führt die Spur zu einem inzwischen verstorbenen Deutschen aus dem kriminellen Milieu Münchens

 02.05.2025

Auszeichnung

Margot Friedländer erhält Großes Verdienstkreuz

Die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer erhält das große Verdienstkreuz der Bundesrepublik. Steinmeier würdigt ihr Lebenswerk als moralische Instanz

 02.05.2025