27. Januar

Das Mädchen auf dem Foto

Ein kleines Kind an der Hand seiner Mutter im Schnee. Auf den ersten Blick wirkt das Bild wie ein nettes Foto aus einem Heile-Welt-Familienalbum. Doch dann entdeckt man im Hintergrund einen Lagerzaun. Der Zaun, die Mutter, das etwa einjährige Mädchen, der weiße Schnee – das ist alles, was man auf dem Bild erkennen kann. »Es war eine Idylle im Schatten des Todes«, sagt Eva Umlauf. Geboren und aufgewachsen im Lager, erst Novaky, dann Auschwitz, hat sie beides überlebt.

Der Zaun auf dem Bild gehört zu Novaky, Eva Umlauf ist das Mädchen auf dem Foto. Die Aufnahme ist 73 Jahre alt, ein Jahr jünger als Eva Umlauf heute. Die Kinderärztin, Psychotherapeutin und Zeitzeugin ist eine der jüngsten Schoa-Überlebenden: Als sie mit ihrer schwangeren Mutter nach Auschwitz deportiert wurde, war sie noch nicht einmal zwei Jahre alt. Als man dem Kleinkind bei der Ankunft die KZ-Nummer einbrannte, verlor es das Bewusstsein.

An diesem Morgen im Hotel wirkt Eva Umlauf hellwach. Und das, obwohl sie am Abend zuvor eine Lesung in Rheinsberg gegeben hat und erst am späten Abend nach Berlin kam, wo sie ihre Co-Autorin besucht. »Ich war überrascht, dass so viele Interessierte zur Lesung kamen und danach noch so viel wissen wollten«, sagt sie erstaunt. Sie wirkt zart und zierlich, ist elegant gekleidet, hat sehr freundliche Augen und eine klangvolle Stimme.

Das Auschwitz-Foto ist auf dem Einband ihres Buches abgebildet, das den Titel Die Nummer auf deinem Unterarm ist blau wie deine Augen trägt. Dieser Satz stammt aus einem Gedicht, das für sie geschrieben wurde. »70 Jahre brauchte ich, bis mir klar wurde, dass ich mich meiner Vergangenheit stellen muss«, sagt sie heute. Auch wenn sie sich nicht richtig erinnert, würden die ersten Jahre ihres Lebens sie immer begleiten. Erst nach »heftigem inneren Kampf« sagte sie zu, am 27. Januar 2011 in Auschwitz die Gedenkrede zu halten.

geburt 1942 wurde Eva Umlauf in Novaky, einem Arbeitslager für Juden, in der Slowakei geboren. Ihre Mutter Agnes war damals 19 Jahre alt. Jedes Jahr an Evas Geburtstag erzählte sie der Tochter, wie sie auf die Welt kam. Der damalige 19. Dezember sei so kalt gewesen, dass in der ungeheizten Kammer das Wasser im Eimer gefror. Ihre Geburt war für ihre Eltern ein Wunder, denn Novaky war eines von drei sogenannten Arbeitslagern, die der slowakische Staat 1941 eingerichtet hatte. »Du warst ein Zeichen des Lebens in einer Zeit der Verfolgung und des Todes«, sagte ihre Mutter immer. »Ich denke mir heute, dass ich auch ein Zeichen des Widerstandes gegen die Unterdrücker war«, sagt Eva Umlauf.

In den Monaten zuvor hatte Agnes Hecht Eltern und andere Angehörige verloren. Sie stammte aus einer wohlhabenden Familie. Eigentlich ist sie die Heldin von Eva Umlaufs Buch. Mit 72 Jahren starb die Mutter. Die Tochter vermisst sie täglich. Ihren Tod hat sie bis heute nicht verwunden. Agnes Hecht litt so stark an den Folgen der Nazizeit, dass ihr das Leben physisch und psychisch zur Qual wurde.

Schweigen »Heute bereue ich es, dass wir über unsere Familiengeschichte so wenig gesprochen haben«, sagt Eva Umlauf nachdenklich. Dass die Spurensuche schmerzhaft werden würde, habe sie geahnt. »Auch, weil es Mut erfordert, den vielen Überlebendenberichten noch einen weiteren hinzuzufügen.« Noch dazu den einer Frau, die Auschwitz »nur« als Kleinkind überlebte und deren Erinnerungen vorrangig im Unterbewusstsein existieren. Deren Leben immer von diesen Erfahrungen geprägt war, auch wenn sie die ausgelöschten Familienmitglieder nie kennenlernen konnte.

Als die Journalistin Stefanie Oswalt von dem Buchprojekt hörte, war sie sofort angetan. »Ich fand es bemerkenswert, wie viel Vertrauen sie mir entgegenbrachte«, sagt Eva Umlaufs Co-Autorin. Oswalt hat sich mit Eva Umlaufs Freunden, ihren drei Söhnen und Familienmitgliedern getroffen und sie interviewt; Eva Umlauf fuhr in die Städte ihrer Kindheit: Auschwitz, Novaky. Dort erinnert heute nur noch eine Gedenktafel an das Lager. Darüber hinaus suchten beide Frauen Archive und Gedenkstätten auf, um zu recherchieren und Unterlagen zu finden, sodass sich das Puzzle langsam zusammensetzen ließ. Durch die Zusammenarbeit ist auch eine Freundschaft entstanden.

Mittlerweile landen auf Eva Umlaufs Schreibtisch täglich zahlreiche Briefe, deren Absender sich für die offenherzige Spurensuche bedanken. Denn sie lässt die Leser an all ihren Überlegungen, Erkenntnissen und Wegen teilhaben. »Auch mir hat die Aufarbeitung sehr geholfen – wie auch meinen Söhnen.« Durch die Auseinandersetzung seien ihr mittlerer Sohn und sie sich wieder näher gekommen – als ihre zweite Ehe geschieden wurde, hatte er sich von ihr distanziert, jahrelang hatten sie keinen Kontakt. Auch er hatte sich auf die Suche nach der Familienvergangenheit begeben, auch er ist nach Auschwitz gefahren und kam mit neuen Erkenntnissen zurück.

nummer Im November 1944 wurde die dreiköpfige Familie Hecht nach Auschwitz deportiert. Der Vater wurde von Frau und Tochter getrennt. Sie sahen ihn zum letzten Mal. Eva und ihre Mutter, die damals zum zweiten Mal schwanger war, kamen nach Birkenau. Dort war die Tötungsmaschinerie der Gaskammern gerade eingestellt worden, denn die Soldaten der Roten Armee rückten immer näher. Als ihr die fünfstellige Nummer in ihren kleinen Unterarm eintätowiert wurde, ist sie ohnmächtig geworden, so berichtete es später ihre Mutter. Wer eine Nummer eintätowiert bekam, durfte leben. Heute ist die Farbe der Tätowierung nicht mehr blau, sondern eher blassblau. Auch ihre Augenfarbe habe sich verändert, sagt Eva Umlauf: Sie ist heute eher grün.

Die Zahl 26.959 ist mit ihrem Unterarm mitgewachsen. »Meine Nummer war für mich immer schon da, weshalb sie zu mir gehört wie jedes Muttermal, jede Falte und jede Narbe. Auch fühle ich mich durch sie mit meinen Schicksalsgenossen verbunden.« An den Nummern lassen sich oft Familienzugehörigkeiten erkennen, denn ihre Neun am Ende der Zahl folgt auf die Acht ihrer Mutter. Weiter erzählte die Mutter ihr, dass sie in die Infektionsbaracke kam. Die damals knapp Zweijährige hatte Keuchhusten, eine Lungen- und eine Rippenfellentzündung. »Wir Kinder haben vor Schmerzen und Hunger geweint, während die Mütter vor den Fenstern auf und ab gingen«, sagt Eva Umlauf.

Und dann gab es noch Josef Mengele, den brutalen, für seine Menschenversuche berüchtigten Arzt. »Ich werde nie erfahren, ob er auch mit mir Experimente gemacht hat, denn die Akten sind größtenteils verschwunden. Aber ich könnte es mir vorstellen, denn ich gerate immer in abgrundtiefe Verzweiflung, wenn ich ins Krankenhaus muss.« Diese Aufenthalte bedeuten für sie stets große Einsamkeit und Bedrohung.

befreiung Nach der Befreiung sagte ein Arzt ihrer Mutter, dass sie ihre Tochter vergessen solle, sie werde nicht überleben, denn sie war zu schwach, konnte weder stehen noch laufen. Doch er täuschte sich. Im April 1945 kam Evas kleine Schwester zur Welt, und im Frühsommer machten sie sich auf den Weg nach Hause. Ihre Mutter hatte einen Säugling im Arm, die kleine Eva an ihrer Hand – mittlerweile hatte sie sich erholt und konnte wieder laufen – und den sechsjährigen verwaisten Tommy im Schlepptau: Auch er stammte aus ihrer Stadt.

Eva Umlauf fand ihn Jahrzehnte später in den USA wieder. Als sie sich wiedertrafen, sprachen sie auch über Auschwitz. Doch obwohl er damals sechs Jahre alt war, ein Alter also, in dem man sich erinnern kann, sei bei ihm die Vergangenheit nicht abrufbar gewesen, sagt Eva Umlauf – bis auf die Panik vor Spritzen und quälende Albträume. Freuten sich die Leute anfangs über ihre Rückkehr – gehörten sie doch zu den wenigen von früher 27.000 tschechoslowakischen Juden, die überlebt hatten –, galten sie ab den 50er-Jahren in dem antireligiös eingestellten kommunistischen Staat als eine Bedrohung für das System, erinnert sich Eva Umlauf. In der Kleinstadt Trencin absolvierte sie ihr Abitur, später studierte sie in Brastislava Medizin. Oft war sie krank und geschwächt – eine der Folgen ihrer ersten Kindheitsjahre.

münchen Ein Sommerurlaub in Jugoslawien veränderte ihr Leben schlagartig: Sie verliebte sich in ihren späteren Mann, Jakob. Er hatte als polnischer Jude ebenfalls mehrere Lager überlebt und war nach München gegangen. »Heute erscheint es mir unglaublich, dass wir über unsere Herkunft und Erlebnisse kaum gesprochen haben«, sagt sie. Mit einem Mercedes fuhr er damals bei ihnen vor – da war ihre Familie schockiert, und sie wurde jede Woche von der Polizei verhört. Jakob kam sie regelmäßig in der Tschechoslowakei besuchen. Sie heirateten 1966, erst standesamtlich, dann verbotenerweise heimlich in der Wohnung eines Rabbiners. Damit die Feier nicht so auffiel, verließen die Gäste einzeln die Wohnung. Ein Jahr später konnte sie offiziell das Land verlassen und nahm auch die Fotoalben mit, die sie ihr ganzes Leben lang begleiten.

Jakobs Bruder, der während seiner Lagerhaft Schläge auf den Kopf bekommen hatte und dadurch eingeschränkt war, lebte bei ihnen. »Das war selbstverständlich«, sagt Eva Umlauf. Ihre Mutter und ihre Schwester kamen später mit ihren Ehemännern nach. In der Jüdischen Grundschule konnte ihre Mutter als Lehrerin arbeiten, litt allerdings nach ihrer Pensionierung an schweren Depressionen. Genau wie sie wurde Eva früh Witwe. Ihr Mann starb an den Folgen eines Turnunfalls – gerade in das neue Haus eingezogen, stürzte er bei einer Übung an den Ringen auf den nackten Fliesenboden und zog sich eine Schädelfraktur zu. »Von einem Tag auf den anderen zerbrach mein Leben – da war mein erster Sohn gerade einmal drei Jahre alt«, sagt Eva Umlauf.

Mithilfe des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde bekam sie eine Stelle als Kinderärztin in einem Krankenhaus. So einen großen Einfluss habe die Gemeinde gehabt. »Die Arbeit rettete mich, denn in ihr fand ich Halt und Struktur.« Später lernte sie ihren zweiten Mann kennen, mit dem sie zwei weitere Söhne bekam und von dem sie geschieden ist. 1976 eröffnete sie ihre Kinderarztpraxis, die sie vor ein paar Jahren verkaufte. Aber bis heute arbeitet Eva Umlauf als Psychotherapeutin.

notenpapier Seit das Buch erschienen ist, wird sie immer wieder zu Lesungen eingeladen. Bis zum vergangenen Sommer kannte sie in Deutschland nur Bayern, wo sie seit fast 50 Jahren lebt. Oft war sie Skilaufen oder wandern. »Jetzt lerne ich das Land kennen und finde es wunderbar.« Nach den Lesungen wollen die Zuhörer oft wissen, wie es sein könne, dass sie im Land der Täter lebt. Darüber hätten ihr erster Mann und sie nie gesprochen.

Eva Umlauf mag es, Freunde zu treffen und Menschen kennenzulernen. Auch besucht sie gern klassische Konzerte. Als Mädchen lernte sie, Geige zu spielen, später aber, wenn in der Familie musiziert wurde, wurde sie mit den Worten »Mach du schon mal den Kaffee« ausgeladen.

Noch etwas verbindet sie mit Musik: Bei ihrer Befreiung in Birkenau hatten die Mitarbeiter des Roten Kreuzes kein Papier mehr, um die Namen der Häftlinge aufzulisten. So halfen die Befreiten einander, ihre Namen auf Notenpapier zu schreiben. Das fand Eva Umlauf bei ihren Recherchen heraus. In diesem Augenblick habe sie wegen ihrer Liebe zur Musik »ein Aha-Erlebnis« gehabt.

Interview

»Damit ihr Schicksal nicht vergessen wird«

Die Schauspielerin Uschi Glas setzt sich für die Befreiung der israelischen Geiseln ein. Ein Gespräch über Menschlichkeit, Solidarität und Gegenwind

von Louis Lewitan  11.12.2024

Stuttgart

Opfer eines Schauprozesses

Nach fast drei Jahrzehnten Stillstand wurde nun ein Platz eingeweiht, der Joseph Süß Oppenheimer gewidmet ist

von Brigitte Jähnigen  10.12.2024

Esslingen

Antike Graffiti

Der Künstler Tuvia ben Avraham beschreibt das Judentum anhand uralter Buchstaben – und jeder darf mitmachen

von Valentin Schmid  09.12.2024

Berlin

Campus mit Kita und Café

Noch bis zum 10. Dezember können Architekten ihre Entwürfe für den Neubau an der Synagoge Fraenkelufer einreichen

von Christine Schmitt  09.12.2024

München

Mit Erfahrung zum Erfolg

Die Spieler des Schachklubs der IKG gehören zu den stärksten in Bayern – allen voran Leonid Volshanik

von Vivian Rosen  09.12.2024

Bundestag

Zentralrat der Juden schlägt Maßnahmen für Schutz jüdischen Lebens vor

Was der jüdische Dachverband von den Parteien mit Blick auf die Neuwahlen erwartet

 09.12.2024

Frankfurt

»Voll akzeptiert in der Gemeinde«

Rabbinerin Elisa Klapheck über das Jubiläum des Egalitären Minjans und das Konzept »Alle unter einem Dach«

von Ralf Balke  07.12.2024

Bedrohung

Wehrt euch!

Wie kann es sein, dass Juden wieder in Angst leben müssen? Wie kann es sein, dass Kippa zu tragen, gefährlich ist, während die Kufiya zum Fashion-Icon für Pseudo-Wokies wird? Ein Aufschrei

von Yaron Jacobs  07.12.2024

München-Schwabing

Ein Stück Hoffnung

Die Synagoge Shaʼarei Zion in der Georgenstraße erhielt eine neue Torarolle

von Luis Gruhler  07.12.2024