Bayerischer Landtag

»Das jüdische Leben begann aufs Neue«

Rachel Salamander (Archiv) Foto: picture alliance/dpa

»Ich bin zurückgekehrt – ich weiß nicht wie.
Ein sanftes Wunder ist an mir geschehen.
Ich hör‹ der Heimatglocken Melodie,
Die Berg‹ und Wälder darf ich wiedersehen.

Ich bin zurückgekehrt – mir ist so weh!
Ist alles anders, als es einst gewesen,
Weil ich’s mit jenen neuen Augen seh‹,
Mit denen ich das Leid der Welt gelesen.

Ich bin zurückgekehrt! – O fragt mich nicht
Nach jenen Schatten, die die Sinne meistern
Und bei des Mondes weißem Totenlicht
Des Nachts durch die zersprungene Seele geistern.«

Dieses Gedicht mit dem Titel »Nachher« schrieb die Schriftstellerin Gerty Spies 1946. Am 23. Juni 1945, es war ein Sonntagnachmittag, da kam sie nach München zurück. Sie hatte Glück, hatte überlebt.

TRANSPORTE In der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie war jüdisches Leben die Ausnahme, sein Tod die Regel. Die Münchner Juden traf es im November 1941. 43 Transporte gingen in die Vernichtungslager nach Osten, Kaunas, Piaski bei Lublin und Auschwitz. 40 Transporte nach Theresienstadt. Mitten im von Leo Klenze gestalteten Wittelsbacher Palais organisierte die Stapo-Leitstelle in der Briennerstraße die Todesfrachten, die vom Münchner Hauptbahnhof von einem Nebengleis aus die Fahrt aufnahmen.

Gerty Spies wurde im Juni 1942 von zwei Männern im Auftrag der Staatspolizei aus ihrer Wohnung in einem der Schwabinger Gründerzeithäuser in der Destouchesstraße abgeholt. Die Wagonladung aus München landete in Theresienstadt und Gerty Spies endgültig in den Fängen derer, die Deutschland vor ihr retten wollten.

Aus München waren um die 12.000 Juden vertrieben oder ermordet worden.

Der letzte Deportationszug nach Theresienstadt übrigens fuhr noch am 23. Februar 1945 mit 31 Juden ab. Aus München waren um die 12.000 Juden vertrieben oder ermordet worden. Von den ehemals in München ansässigen Juden sahen nur wenige ihre Stadt wieder, so zum Beispiel die Schauspielerin der Münchner Kammerspiele Therese Giehse oder der unvergessene Fritz Kortner.

Die amerikanischen Alliierten stießen bei Kriegsende auf 84 Juden in München, die sich hatten verstecken können. Im Vergleich zu Berlin eine sehr geringe Anzahl. Auch 300 getauften Juden oder solche mit dem Status einer sogenannten privilegierten Mischehe hatten es geschafft, in München zu überleben.

Rückkehr Etwa 150 kehrten an jenem 23. Juni 1945 mit einem Transport aus Theresienstadt zurück. Sie waren gezeichnet vom Erlittenen und im Ungewissen über das Kommende. Ein erneuter Kampf begann: Sie mussten um ihren rechtmäßigen Platz im Leben kämpfen, um eine Bleibe – in Gerty Spies Wohnung hatte es sich zum Beispiel ein Nachbar bequem gemacht und es dauerte viele Monate, bis sie mit Hilfe der Amerikaner wieder einziehen konnte. Die Rückkehrer hatten nichts und meist niemanden mehr, ihre Welt war unwiderruflich zerstört.

Das zeigt auch das Schicksal des Präsidenten des FC Bayern München, Kurt Landauer. Der Meistermacher der Bayern von 1932 kehrte 1947 aus seinem Genfer Exil völlig mittellos nach München zurück. Drei seiner Geschwister waren von den Nazis ermordet worden, er selbst nach der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ins KZ Dachau verschleppt und dort 33 Tage malträtiert worden. Auch er musste nach seiner Rückkehr um eine Wohnung kämpfen, um Möbel, um Lebensmittel, sich einem demütigenden Wiedergutmachungsverfahren aussetzen, und zwar bei jenen, die ab 1933 mitgemacht hatten, die Schlinge um Juden immer enger zu ziehen, sie zu entbürgerlichen und sie zu verfolgen.

Das einstige deutsche Judentum und damit auch die Münchner jüdische Gemeinde hatten aufgehört zu existieren.

Als die Amerikaner München befreiten, lag die Stadt in Trümmern. Das einstige deutsche Judentum und damit auch die Münchner jüdische Gemeinde hatten aufgehört zu existieren. Doch noch 1945, am 19. Juli, wurde im Jüdischen Altersheim in der Kaulbachstraße Münchens Israelitische Kultusgemeinde neu gegründet, auch von einem Zurückgekehrten, dem Kinderarzt Dr. Julius Spanier.

Im März 1946 zählte die Gemeinde ca. 2800 Mitglieder, davon knapp 800, die auch vor dem Krieg der Gemeinde angehört hatten. Die anderen 2000 waren Befreite aus den KZs oder Überlebende der Todesmärsche. Im Sommer 1946 kamen dann ca. 150 000 Juden aus Osteuropa, die in der Sowjetunion überlebt hatten, nach Deutschland. Das Pogrom von Kielce 1946 hatte eine Massenflucht der Juden ausgelöst. Bis 1948 suchten circa 250.000 Juden Zuflucht in Deutschland. Mit der Gründung des Staates Israel verließen sie bis auf zehn Prozent Deutschland wieder. Nie vorher waren sie hier gewesen und wollten hier auch auf keinen Fall bleiben. Deutschland sollte lediglich Durchgangsstation sein.

In München hielten sich 1946 zwischen 6000 und 7000 von ihnen auf. Sie gehörten der vornehmlich aus Osteuropa stammenden Gruppe sogenannter Displaced Persons an. Sie waren displaced, ohne Ort, deplaziert im Land der Täter und abhängig hauptsächlich von amerikanischen Hilfsorganisationen, die in München ihren Sitz hatten. Zusammen mit dem Häuflein deutscher Juden bildeten sie den Kern, aus dem sich die Münchner Nachkriegsgemeinde zusammensetzte.

Gotteshaus Am 20. Mai 1947, also vor genau 75 Jahren, wurde die Synagoge in der Reichenbachstraße wieder feierlich eingeweiht. Ein historisches Datum in mehrfachem Sinne. Nicht nur, weil es sich bei der Reichenbach-Synagoge um die erste im Nachkriegsdeutschland wieder eingeweihte Synagoge handelt, sondern weil eine jüdische Gemeinschaft erst dann eine Gemeinde bildet, wenn sie sich in einem Gotteshaus versammeln kann. Die Synagoge ist in erster Linie religiöses Zentrum, aber von je her auch sozialer und kultureller Mittelpunkt. Mit der Synagoge in der Reichenbachstraße begann das jüdische Leben hierzulande aufs Neue.

Der Synagoge in der Reichenbachstraße kommt eine einzigartige historische Bedeutung zu

Die Nationalsozialisten hatten mit den Menschen auch die sichtbaren Spuren ihrer einstigen Existenz vernichtet. Und weil die Synagoge in der Reichenbachstraße 1945 nicht nur die einzige übrig gebliebene Synagoge Münchens war und darüber hinaus der einzig erhaltene Vorkriegsbau der Münchner Judentums, kommt ihr in der Geschichte des jüdischen Münchens nach der Schoa eine einzigartige historische Bedeutung zu.

Die ehemalige Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße, ein prächtiges Zeichen des Aufstiegs der Juden Münchens ins Bürgertum, 1887 von Albert Schmidt, dem Architekten des Löwenbräukellers und der Lukaskirche, erbaut, verschwand bereits nach einem halben Jahrhundert wieder aus der Münchner Stadtsilhouette, wo sie zusammen mit der Frauenkirche bis 1938 das Stadtbild prägte. Schon am 9. Juni 1938 hatte Hitler persönlich den Abriss dieser drittgrößten Synagoge Deutschlands als angebliches Verkehrshindernis angeordnet.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November gingen im ganzen deutschen Reich die Synagogen in Flammen auf, und die zweite Synagoge der Stadt, die orthodoxe Ohel-Jakob-Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sie brannte völlig aus. Das Bethaus der osteuropäischen Juden in der Reichenbachstraße überstand den Brand nur, weil die Feuerwehr löschte, um das Übergreifen auf die Nachbarhäuser zu verhindern. Trotzdem hatte die 1931 errichtete Synagoge nur eine kurze Dauer von sieben Jahren. SA-Männer verwüsteten die gesamte Inneneinrichtung, schändeten die Thorarollen und demolierten die liturgischen Gerätschaften. Ein einzigartiges Baudenkmal der Moderne und eine der weltweit seltenen Synagogen der Neuen Sachlichkeit war zerstört.

Nach einigem Hin und Her mit den deutschen Behörden wurde sie 1947 notdürftig in Stand gesetzt, für jene, die sie lediglich auf ihrem Weg in andere Länder vorübergehend nutzen wollten. Sie in ihren vormaligen Zustand zurückzuführen, bot sich gar nicht erst an. Die ursprüngliche Innenarchitektur und die von den Zeitgenossen als Erlebnis gerühmte Vorkriegsästhetik wichen einer traurigen Pragmatik.

Einweihung An der Einweihung der Synagoge in der Reichenbachstraße nahmen am 20. Mai 1947 teil: der amerikanische Militärgouverneur für Deutschland und Leiter der amerikanischen Militärregierung für Bayern, General Lucius D. Clay, Ministerpräsident Hans Ehard, Kultusminister Alois Hundhammer, viele Vertreter der Stadt, der Universität und der verschiedenen Konfessionen. Im Mittelpunkt der Feier stand die Rede von General Clay. Ministerpräsident Ehard tat kund: »Alle anständigen Menschen in unserem Volke haben den ernsten Willen, ein schändliches Unrecht gutzumachen.« Der Staatskommissar für die Betreuung rassisch und politisch Verfolgter, Philipp Auerbach - ein Überlebender der Schoa, der übrigens aufgrund falscher antisemitischer Anschuldigungen wegen Veruntreuung und Betrug 1952 in den Selbstmord getrieben und später rehabilitiert wurde - überreichte an Oberrabbiner Ohrenstein den Schlüssel zum Gotteshaus.

75 Jahre später arbeitet der gemeinnützige Verein Synagoge Reichenbachstraße auf die dritte Einweihung hin. Von mir initiiert und zusammen mit Rechtsanwalt Ron Jakubowicz gegründet, geht es dem Verein und seinen Mitstreitern, zuvorderst dem Architekten Christoph Sattler und hilfreichen Kuratoren, darum, das, was jüdische Menschen noch 1931 gutgläubig aufbauten und die Nazis sieben Jahre später brutal zerstörten, wieder in unsere Gegenwart zurückzuholen.

Es gilt, das vom Münchner Vorkriegsjudentum verbliebene Erbe wieder seiner vollen Würde zuzuführen.

Das Provisorium Reichenbachstraße hat lange genug gehalten, bis zur Eröffnung des Jüdischen Zentrums am Jakobs-Platz 2006. Kaum etwas hält länger als Provisorium. Aber diese passagere Zeit ist nun endgültig Vergangenheit. Es gilt, das vom Münchner Vorkriegsjudentum verbliebene Erbe wieder seiner vollen Würde zuzuführen. Es ist höchste Zeit, die Bedrückung der dürftigen und Trauma beladenen Atmosphäre nach der Schoa hinter uns zu lassen.

Die Wiederherstellung der vom Architekten Gustav Meyerstein gebauten Synagoge ist unser Programm und unsere Pflicht. Wir, die nach der Schoa Geborenen, Juden wie Nichtjuden, können achtzig Jahre nach Kriegsende, nicht das einzige Relikt Münchner Vorkriegsgeschichte ihrem Verfall überlassen. Die späte Restitution dieses einzigartigen Kunstdenkmals Reichenbachstraße 27 wird endlich »schändliches Unrecht« aus der Welt schaffen, wie es am 20. Mai 1947 Ministerpräsident Ehard forderte, und gleichzeitig allen Bürgern der Stadt München und darüber hinaus eine baugeschichtliche Attraktion zurückgeben.

Mit seiner Tätigkeit fördert der Verein »Synagoge Reichenbachstraße« für die Allgemeinheit den Denkmalschutz, Kunst und Kultur sowie die Religionsausübung. Nach Wiederherstellung der Synagoge, die finanziell je zu einem Drittel vom Freistaat Bayern, vom Bund und der Stadt München getragen wird, soll die Reichenbachstraße für Gottesdienste nutzbar, aber auch pädagogischen und kulturellen Aktivitäten öffentlich zugänglich sein.

Rachel Salamander ist Literaturwissenschaftlerin, Journalistin und Vorsitzende des Vereins zum Wiederaufbau der Synagoge in der Reichenbachstraße. Ihr Vortrag vom 19. Mai 2022 wurde hier ungekürzt wiedergegeben.

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024