Porträt der Woche

»Das Jüdische ist mein Anker«

»Ich wünsche mir für die nächste Generation, dass sie frei und selbstbewusst mit ihrem Judentum umgeht«: Irina Rosensaft (37) lebt in Frankfurt. Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

»Das Jüdische ist mein Anker«

Irina Rosensaft ist Politikwissenschaftlerin und will Gemeinden digital fit machen

von Eugen El  25.10.2020 08:17 Uhr

Ich wusste von klein auf, dass ich Jüdin bin – im Sinne der Sowjetunion, mit einem Pass, wo das auch drinsteht. Das haben mir meine Eltern sehr früh kommuniziert. Auch in der Familie war die Abgrenzung zu anderen Nationen innerhalb der Sowjetunion sehr klar: Wir sind keine Russen, keine Ukrainer, sondern wir sind Juden.

Ich wurde 1982 in der damaligen Sowjetunion geboren und bin dort aufgewachsen. Nach deren Zusammenbruch eröffneten in der Ukraine die ersten jüdischen Sonntagsschulen.

Auch meine Eltern haben mich in eine solche Schule gebracht, damit ich zusammen mit anderen jüdischen Kindern lerne. Dort habe ich alle Feiertage noch einmal kennengelernt und auch handfeste Traditionen, die bei mir zu Hause nicht gelebt wurden, sich aber in kleinen Dingen äußerten.

Schwerin 1995 sind wir nach Deutschland ausgewandert. Wir kamen in eine kleine Stadt namens Schwerin mit einer sehr kleinen jüdischen Gemeinde, die damals in ihrer Entwicklungsphase war. Wir lebten erst einmal, wie viele Einwanderer, in Flüchtlingsunterkünften. Ich hatte es sehr schwer, mich als Zwölfjährige in der neuen Situation einzufinden. Aber es gab eine Lehrerin, Frau Adler, die sehr viel für mich und für meine heutige Entwicklung getan hat. Sie hat angefangen, mir im Einzelunterricht Deutsch beizubringen. So konnte ich nach und nach am normalen Unterricht teilnehmen, habe den Absprung von der Realschule geschafft und durfte aufs Gymnasium wechseln.

Meine Familie war sehr stolz auf mich, dass ich aufs Gymnasium gehen durfte, um später studieren zu können. Meine Eltern haben sehr viel in Bildung investiert und forcierten das Thema, wie es sich in einer sowjetisch-jüdischen Familie gehört, von allen Seiten. Aus mir sollte etwas werden, denn schließlich sind meine Eltern dafür nach Deutschland gekommen.

Ich habe sehr früh lernen müssen, wer Freund und wer Feind ist.

In dieser Zeit habe ich angefangen, mich in der Schweriner Gemeinde zu engagieren, weil es dort nichts für Kinder und Jugendliche in meinem Alter gab. Ich bin auf die Machanot der ZWST gefahren, sobald wir einigermaßen in Deutschland angekommen waren. So stand ziemlich früh fest, dass ich ähnliche Erlebnisse für mich und andere Jugendliche auch in meiner Gemeinde haben möchte. So begann ich, sonntags kleine Workshops zu jüdischen oder ethischen Themen zu veranstalten – das, was mir auf den Machanot die Madrichim vorlebten.

STUDIUM Die Funktion habe ich in meiner Gemeinde als 14-Jährige übernommen. Ich habe mich ziemlich schnell auch mit anderen Jugendlichen in Deutschland vernetzt. Ich bin in andere Jugendzentren gereist, um zu schauen, wie die Strukturen funktionieren und was alles zu einem Jugendzentrum gehört. Unterstützung bekam ich vom Jugendreferat der ZWST. Ich fuhr als Madricha auf Seminare und Machanot und absolvierte die Madrichim-Ausbildung.

Es war immer sehr wichtig, dass ich das, was ich selbst über das Jüdischsein lerne und bekomme, auch weitergebe. So war für mich klar, dass ich irgendwo studieren möchte, wo es eine größere Gemeinde gibt, in die ich mich gut einbringen kann. Auch Israel als möglicher Studienort stand für mich im Raum. Für meine Eltern war jedoch klar: Sie sind hierhergekommen, damit ich hier meine Ausbildung machen und studieren kann. Insofern wäre es nie zu dieser Entscheidung gekommen, weil meine Eltern mich nie hätten nach Israel gehen lassen.

Wegen meines Interesses am Judentum, an Israel und an israelischer Politik habe ich mich entschlossen, Politikwissenschaft zu studieren. 2002 zog ich zum Studium nach Mainz. Ich wurde dann Vorstand des Jüdischen Studentenverbandes in Hessen, später auch des Bundesverbandes Jüdischer Studierender. Wir haben viele Veranstaltungen organisiert, darunter Seminare in unterschiedlichen kleineren Verbänden. Wieder wollte ich das, was ich lebe, an andere Studierende weitergeben.

Die jungen Leute sollten ihre Tradition kennenlernen, sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, damit die Pluralität dieser Identität auch Akzeptanz findet. Beruflich etwas mit Israel und Judentum zu machen, das war schon immer mein Wunsch. Deswegen wollte ich mich im Studium darauf ausrichten, eines Tages bei einer großen jüdischen Organisation zu arbeiten.

Ich besuchte Kongresse und weitete meine politischen Aktivitäten aus. 2007 trat ich B’nai B’rith bei, die sich international politisch für jüdische Belange engagiert. Mit B’nai B’rith bin ich auch zu den Vereinten Nationen gekommen. Ich konnte die Erfahrung machen, dass man als jüdische Organisation auf dem internationalen Parkett etwas zu sagen hat. Das fand ich sehr spannend.

MABAT 2009 bin ich nach kleineren Stationen in der freien Wirtschaft bei der ZWST in einem Projekt zur Professionalisierung von Mitarbeitern jüdischer Gemeinden eingestiegen. Während dieser Zeit war ich weiterhin als Ehrenamtliche bei B’nai B’rith und auch im Studentenverband aktiv. Da kam der Wunsch auf, zu schauen, was andere Organisationen tun, und gegebenenfalls auch in die Wirtschaft reinzuschnuppern. So bin ich zunächst zu einer nichtjüdischen Non-Profit-Organisation gegangen. Dort war ich Organisa-tionsentwicklerin.

Es waren sehr spannende professionelle Strukturen, in denen ich viel gelernt habe. Als das Wiesbadener Büro der Non-Profit-Organisation geschlossen wurde, musste ich mich neu orientieren. Von 2013 bis 2016 absolvierte ich an der TU Kaiserslautern einen Master-Studiengang in Organisationsentwicklung. Danach habe ich den Schritt in die IT-Wirtschaft gewagt, und es war auch gut so.

Was Tempo, Technologien und Professionalität betrifft, habe ich einiges dazugelernt. Im Zuge meiner Tätigkeiten in der Wirtschaft hat mir ein Ehrenamt gefehlt. Seit 2018 bin ich daher Mitglied im World Jewish Congress Jewish Diplomatic Corps. Wir kommunizieren mit Politikern und Diplomaten, bekämpfen Antisemitismus und antiisraelische Ressentiments und positionieren uns in der Öffentlichkeit gegen Judenhass und Antizionismus. Ich bin dort weiterhin aktiv.

ZWST Zufälligerweise sah ich dieses Jahr, dass jemand bei der ZWST gesucht wurde, und habe mich auf die Stelle beworben. Das hat einfach gepasst. Mein ganzer Werdegang hat plötzlich Sinn ergeben. Seit dem 1. September leite ich »Mabat«, ein ZWST-Projekt für digitale Transformation. Es wird vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanziell unterstützt.

Durch den Einsatz digitaler Technologien wollen wir mehr Teilhabe und Chancengleichheit für benachteiligte Personengruppen schaffen, wie etwa Senioren und Jugendliche. Es geht darum, mit dem Transfer analoger Prozesse in digitale mehr Lebensqualität für die benachteiligten Personen zu ermöglichen. Ich denke, dass Digitalisierung der Weg in die Zukunft ist und auch Nachhaltigkeit für die jüdischen Gemeinden mit sich bringt.

Durch die digitale Transformation können wir es hoffentlich schaffen, die Strukturen in den Gemeinden attraktiver für die junge Generation zu gestalten. Auch für Menschen im mittleren Alter ist Digitalisierung spannend. So nimmt die Attraktivität der Gemeinden auch an dieser Stelle zu, weil alle Mitglieder sich bereits in einer Realität befinden, die durch Digitales geprägt ist. Es fühlt sich so an, dass es ein wichtiger und richtiger Schritt war, auch professionell wieder in eine jüdische Organisation zurückzukommen. Ich fühle mich wie ein Ganzes.

NETZWERK Das Jüdische ist meine ganze Identität, mein Ankerpunkt. Ich bin eine traditionelle Jüdin. Ich halte die Feiertage und Kaschrut. Ich lebe in der jüdischen Tradition. Das ist das, was mich ausmacht, und das, was mein Handeln prägt. Das Jüdische ist für mich nicht nur ein struktureller oder normativer Rahmen. Es ist auch Ethik und eine Lebensphilosophie, wenn man so will.

Ich vernetze Menschen unheimlich gern miteinander. Damit verbringe ich im Grunde meine ganze Freizeit. Deswegen habe ich in Frankfurt ein Jewish Professionals Network bei B’nai B’rith mitgegründet. Es soll Menschen die Möglichkeit geben, im Alltag füreinander dazusein und einander in jeder möglichen Situation auszuhelfen. Ich möchte sicherstellen, dass meine Kinder in diesem Land jüdisch bleiben können. Daher engagiere ich mich für die jüdischen Gemeinden und für Israel. Es ist genauso wichtig wie die Diaspora.

Ich musste als kleines Kind immer daran denken, dass man dafür, dass man Jude ist, vom Staat, dem Schulsystem oder dem Freundeskreis benachteiligt werden kann. Ich habe sehr früh lernen müssen, wer Freund und wer Feind ist. Ich wünsche mir für die nächste Generation, dass sie frei und selbstbewusst mit ihrem Judentum umgeht.

Aufgezeichnet von Eugen El

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