Porträt der Woche

»Das Cello hat mich ausgesucht«

»Es war die richtige Entscheidung, nach Deutschland gekommen zu sein«: Elizaveta Belinskaya (54) Foto: Yohan Orel

Porträt der Woche

»Das Cello hat mich ausgesucht«

Elizaveta Belinskaya will in Freiburg an ihre Karriere in Russland anknüpfen

von Anja Bochtler  09.03.2015 18:37 Uhr

Musik ist mein Leben. Ein Tag ohne Cello ist für mich fast ein verlorener Tag. Seit ich sieben Jahre alt bin, spiele ich das Instrument. Angefangen hat diese Leidenschaft in der Musikschule in Astrachan, meiner alten Heimat. Das ist eine Stadt in Russland, direkt an der Mündung der Wolga ins Kaspische Meer. Dort war ich eine erfolgreiche Musikerin.

Seit ich in Deutschland lebe, versuche ich, an diese Erfolge anzuknüpfen. Vor vier Jahren kam ich mit meinem Mann, meiner Mutter und meiner Tochter nach Freiburg. Sich hier als Musikerin eine neue Existenz aufzubauen, ist nicht ganz einfach. Die Konkurrenz ist groß, und dass ich bald 55 Jahre alt werde, macht es nicht gerade einfacher. Aber ich unterrichte, leite mit meinem Mann den Chor der Jüdischen Gemeinde und spiele mit ihm und einer Pianistin im Trio »Kol Hatikva« (Stimme der Hoffnung).

lebenstraum Zur Musik gekommen bin ich durch meine Mutter. Sie war Lehrerin und Journalistin, außerdem hatte sie eine wunderschöne Stimme und hat viel gesungen. Sie wäre gern Profi-Musikerin geworden. Weil das nicht klappte, gab sie ihren Lebenstraum an mich weiter. Meinen Vater habe ich nie kennengelernt. Als ich geboren wurde, hatten sich meine Eltern schon getrennt.

Meine Mutter schickte mich zur Musikschule, an zwei oder drei Nachmittagen in der Woche hatte ich Unterricht. Ich wollte sie nicht enttäuschen und strengte mich an. Später war sie sehr, sehr stolz auf mich. Auch ich habe meine Tochter zur Musikschule geschickt. Nach fünf Jahren ist sie an die Kunstschule gewechselt. Ob ich deswegen traurig bin? Das ist schwer zu sagen. Am wichtigsten ist natürlich, dass sie etwas gefunden hat, das ihr gefällt.

Generell hatten meine Mutter, meine Tochter und ich ein sehr gutes Verhältnis zueinander. Als meine Tochter 1993 geboren wurde, hat meine Mutter uns beiden viel geholfen. So konnte ich schon 20 Tage nach der Geburt wieder arbeiten. Im vergangenen Herbst, als meine Mutter gestorben ist, haben wir viel getrauert. Sie bekam eine jüdische Beerdigung, wir haben Kaddisch für sie gesprochen. Ihr Grab auf dem jüdischen Friedhof besuche ich oft.

Judentum Früher in Astrachan hat meine Mutter oft in der jüdischen Gemeinde gesungen. Ich selbst fühle mich mehr der jüdischen Kultur als der jüdischen Religion verbunden. Meine Tochter und ich sind sehr aktiv in der Gemeinde – genauso wie mein nichtjüdischer Mann.

Ein normaler Arbeitstag beginnt bei mir um neun Uhr am Computer. Als Erstes recherchiere ich dann im Internet Noten, die ich für meinen Unterricht und meine Auftritte brauche. An vier Nachmittagen in der Woche unterrichte ich bei mir zu Hause Schüler. Ich habe noch nicht viele, aber ich hoffe, dass es mehr werden.

Ich unterrichte Cello, Klavier und Keyboard. Von den drei Instrumenten ist das Cello definitiv mein Lieblingsinstrument. Als Kind hatte ich im Fernsehen ein Cellokonzert gesehen und war sofort hin und weg. Weshalb genau, kann ich gar nicht sagen. Es war ein erster Eindruck, der sich nicht weiter begründen lässt. Ich glaube, das Cello hat mich ausgesucht und nicht umgekehrt.

höhepunkt Ein Highlight ist für mich jede Woche die Chorprobe in der Jüdischen Gemeinde gemeinsam mit meinem Mann. Zurzeit hat der Chor 15 Mitglieder, die Jüngsten sind Mitte 40. Das Musikrepertoire der Gemeinde war neu für mich. Neu war auch, dass ich jetzt fast immer mit Amateuren arbeite, denn in Astrachan hatte ich nur mit Profis zu tun. Mit ihnen geht alles viel schneller, daran musste ich mich erst mal gewöhnen. Aber es ist interessant.

Mein Mann kümmert sich bei Veranstaltungen in der Jüdischen Gemeinde auch um die Technik. Meine Tochter und ich machen Fotos oder schneiden Filme. Wir arbeiten dort ehrenamtlich, wir bekommen nur die Übungsleiterpauschale. Doch mit unserem Trio »Kol Hatikva« können wir gegen Bezahlung bundesweit in jüdischen Gemeinden auftreten, wenn Interesse besteht. Die Gemeinden müssen das nicht selbst finanzieren, weil wir für das Kulturheft des Zentralrats der Juden ausgewählt wurden. Der Zentralrat finanziert jeder Gemeinde zwei der dort aufgelisteten Kulturveranstaltungen pro Jahr.

In Astrachan hatte ich alles erreicht, was ich erreichen konnte. Mein Weg als Musikerin verlief glatt: acht Jahre Musikschule, vier Jahre Musikkolleg, fünf Jahre Musikhochschule. Nach dem Abschluss habe ich an der Hochschule unterrichtet und im Kammerorchester der Philharmonie gespielt. Dort lernte ich 1990 meinen Mann kennen, der auch im Orchester Cello spielte. Später wurde er Dirigent, und ich war die Leiterin für das Streichquartett und erste Cellistin des Orchesters.

reisen Wir hatten gemeinsame Projekte und waren von Russland über Italien bis nach Peru oft zusammen auf Reisen. Das war unüblich im Vergleich zur durchschnittlichen Bevölkerung in Astrachan. Wir bekamen staatliche Auszeichnungen als »verdiente Künstler«. Auf den Reisen habe ich viel erlebt. Einmal war ich einen Monat in Rom und trat als Cello-Solistin in einem Weihnachtszirkus auf. Ich habe eine Akrobatik-Nummer begleitet.

Als die Akrobatin hoch oben unter der Kuppel hing, ging plötzlich das Licht aus. Ich konnte meine Noten nicht mehr sehen, und es war ein sehr schwieriges Stück. Ich hatte Angst, dass die Akrobatin aus der Fassung kommen und runterfallen würde. Also improvisierte ich einfach ohne Noten, und der Komponist rannte schnell zum Regisseur und sorgte dafür, dass das Licht wieder funktionierte. Zum Glück ist alles gut ausgegangen.

Vor einigen Jahren wurde meinem Mann und mir klar: In Astrachan haben wir alles erreicht, wir konnten uns dort nicht mehr verbessern. Wir wollten etwas anderes ausprobieren, denn wir wohnten zu dritt auf 40 Quadratmetern in einem Künstlerwohnheim, wo es in der Küche nicht mal eine Spüle gab – und als Rentner hätten wir noch beengter wohnen müssen.

Projekte In unseren ersten vier Monaten in Freiburg war es zwar auch eng, wir waren in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht. Dann konnten wir aber in eine Wohnung umziehen, die 75 Quadratmeter groß ist. Jetzt hat jeder von uns dreien ein eigenes Zimmer und kann ungestört an seinen Projekten arbeiten. Das ist sehr wichtig. Zurzeit verdienen mein Mann und ich noch nicht genug, um aus eigener Kraft über die Runden zu kommen. Wir müssen unseren Lebensunterhalt noch mit Hartz IV aufstocken. Doch wir waren uns von Anfang an darüber im Klaren, dass es schwierig werden würde.

Das Wichtigste ist für mich, dass unsere Tochter bessere Möglichkeiten als in Russland hat – und davon bin ich überzeugt. Zurzeit arbeitet sie als Praktikantin in einem Verlag für Kindermedien, davor hat sie in Freiburg eine Ausbildung zur Grafikdesignerin absolviert. Sie ist auf einem guten Weg und wird hier ihre Karriere machen.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich Heimweh habe. Das ist schwer zu sagen. Natürlich habe ich viele Erinnerungen an Russland. Dort hatten wir so viele gute Freunde. Das fehlt meinem Mann und mir jetzt. In Freiburg haben wir bisher nur eine Freundin gefunden, eine Pianistin. Trotzdem war und ist es ein Traum für uns, nach Deutschland gekommen zu sein, auch weil meine liebsten Komponisten alle Deutsche sind. Bach, Beethoven und Brahms – das ist für mich mein transportables Vaterland.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

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