Die Schülerin war am Weinen, so sehr berührte sie das Schicksal von Margot Friedländer. Im April 2013 las die damals 92-Jährige vor den Klassen der Schöneberger Sophie-Scholl-Schule aus ihrer Biografie. Über diese Veranstaltung schrieb ich einen Artikel für die »Jüdische Allgemeine« und erlebte die Schoa-Überlebende zum ersten Mal. Sie las gerade vor, wie einsam sie sich gefühlt hatte, als sich ihre Mutter und ihr Bruder einen Tag vor der geplanten Flucht der Gestapo stellten und sie allein in Berlin-Kreuzberg zurückblieb. Ihre Mutter gab ihr ihre Handtasche und den Rat: »Versuche, dein Leben zu machen.« Das war 1943.
Natürlich trug Margot Friedländer bei der Lesung die Bernsteinkette, die in der Handtasche ihrer Mutter gesteckt hatte. Sie berichtete von ihrem Untertauchen, ihrer Deportation ins Ghetto Theresienstadt und der Ermordung ihrer Mutter und ihres Bruders. Es klingelte zur Pause – doch sie sprach unbeirrt weiter, und auch die Schüler waren gebannt und überhörten das Pausenzeichen ebenfalls. »Es kam nur auf eines an: den Tag zu überleben«, berichtete sie damals. »Ich möchte mit Ihnen sprechen. Sie sind diejenigen, auf die es ankommt«, sagte sie den Schülern. »So etwas darf nie wieder geschehen, Sie sind dafür verantwortlich. Wir sind alle gleich.« Die Jugendlichen waren sprachlos und applaudierten.
Nach der Lesung standen sie vor ihr Schlange, wollten ihre Biografie erwerben und baten sie um Autogramme. Mit ihrem Charisma, ihrer zugewandten und versöhnenden Art hatte die Schoa-Überlebende die Schüler erreicht.
Sie hatte ein unfassbar gutes Gedächtnis
So lernte ich Margot Friedländer kennen, die im Lauf der Jahre körperlich immer zerbrechlicher, von ihrer Bedeutung her jedoch immer größer wurde. 2013 war sie noch nicht allzu berühmt. Ihre Tätigkeit als Zeitzeugin dürfte ihr Lebenselixier gewesen sein. Aber sie war nicht nur eine Überlebende der Schoa, sie war politisch interessiert und immer auf dem Laufenden, konnte fast alle Ereignisse fundiert kommentieren – und hatte ein unfassbar gutes Gedächtnis.
Als ich über Fritz Wisten schreiben wollte, den ehemaligen Schauspieler und Regisseur, der im Jüdischen Kulturbund aktiv war, rief ich Margot Friedländer an. Natürlich kannte sie ihn, denn sie hatte in den 30er-Jahren die Kostüme für die Schauspieler geschneidert, die beim Jüdischen Kulturbund auf der Bühne standen. Wollte ich eine Meinung zu Geschehnissen in den USA haben, rief ich sie an, denn sie hatte nach dem Krieg viele Jahrzehnte dort gelebt.
Nie wollte sie vergessen, dass ihr andere Menschen halfen, versteckt in Berlin zu überleben.
Dabei ließ ich mich immer über die Rezeption des Hauses, in dem sie eine Wohnung hatte, vermitteln. Es sei noch zu früh, teilte mir eine Rezeptionistin mit, wenn ich vor 11 Uhr anrief. Ich solle es später noch einmal probieren. Dieses »Später« schob sich im Lauf der Jahre tatsächlich immer weiter nach hinten. Schließlich erreichte ich sie nur noch selten vor 14 Uhr – es fiel ihr immer schwerer, in den Tag zu kommen.
Etliche Auszeichnungen hat sie in Empfang genommen. Eine Feier ist mir besonders in Erinnerung geblieben, es war 2018 im Roten Rathaus, als ihr gemeinsam mit Inge Deutschkron die Ehrenbürgerwürde Berlins verliehen wurde. »Sie sind ein Vorbild. Sie leben uns vor, die Stimme zu erheben, und stiften zu verantwortungsbewusstem Handeln an«, sagte Michael Müller zu ihr. Sie erreiche die Ohren und Herzen vor allem junger Menschen.
Und Margot Friedländer antwortete damals: »Hitler, Goebbels und Göring waren auch Ehrenbürger der Stadt. Heute würden sie sich im Grab umdrehen, wenn sie denn eines hätten – zwei Jüdinnen werden Ehrenbürger.« Nie wollte sie vergessen, dass ihr andere Menschen halfen, versteckt in Berlin zu überleben.
Mit 88 fasste sie den Entschluss, in ihre Geburtsstadt zurückzukehren
1944 wurde sie von den Nazis entdeckt und nach Theresienstadt deportiert. Sie überlebte und emigrierte mit ihrem Mann Adolph Friedländer in die USA. Mit 88 Jahren fasste sie den Entschluss, in ihre Geburtsstadt zurückzukehren. »Es ist meine Mission, für die zu sprechen, die nicht mehr sprechen können.«
Immer wieder trafen wir uns bei Veranstaltungen, wie beim Louis Lewandowski Festival 2019. Da tanzte sie neben Michael Müller, als er noch Regierender Bürgermeister von Berlin war und an diesem Abend im Takt wippte. Zu den besonderen Gedenktagen verriet sie, dass sie nun wirklich gar keine Zeit für Treffen oder Interviews habe, denn sie sei von morgens bis abends verplant und zu etlichen Veranstaltungen eingeladen. Auch wenn sie dabei nicht immer als Rednerin auftrat, so verlieh sie ihnen allein durch ihre Anwesenheit Würde.
Es folgten viele Auszeichnungen. Ebenso Filme und Bücher mit ihr.
Doch es gab auch eine andere Seite der Grande Dame. Als sie 2023 die Margot-Friedländer-Stiftung gründete, besuchte ich sie für ein Interview in ihrem Apartment. Es dauerte eine Weile, bis sie die Tür öffnete. Ein Nachbar kam vorbei, sagte, man brauche etwas Geduld, und drückte mir ein paar Zeitungen in die Hand, die ich ihr zur Lektüre weitergeben sollte. An diesem Tag wirkte sie leicht müde, sie meinte, es gehe ihr nicht so gut, sie habe Probleme mit dem Herzen. Sie wollte nicht viel reden, es strenge sie zu sehr an. »Man ist mir dankbar für das, was ich tue. Warum habe ich die Anerkennung bekommen? Doch nicht für mich, sondern für meine Aufgabe!«, sagte sie.
Sie hatte in New York einen Kurs für biografisches Schreiben besucht
Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie in New York einen Kurs für biografisches Schreiben besucht. Eine ihrer ersten Geschichten handelte von ihrer Befreiung aus dem Konzentrationslager. In dem Kurs bemerkte sie, wie wenig die anderen über die Schoa wussten. Das war der Moment, in dem sie beschloss, dass sie ihre Geschichte der Öffentlichkeit erzählen muss.
Am Tag des Interviews im Herbst 2023, da war sie fast 102 Jahre alt, standen die Hohen Feiertage vor der Tür, und sie war sich noch nicht sicher, wie sie sie verbringen würde, wusste aber, dass eine Freundin sich kümmern würde. Genauso geschah es, sie wurde für den Gottesdienst abgeholt.
Nach dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde sie ins Schloss Bellevue eingeladen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte zu einem Runden Tisch gebeten, über den ich berichtete. Margot Friedländer betrat gemächlich, aber energisch mithilfe eines Rollators den Saal. Sie hatte nach dem Bundespräsidenten das Wort. »Seid Menschen«, betonte sie – dieser Satz war ihr Credo. Wer Mensch ist, kann keinem anderen etwas Böses tun, glaubte sie. Die Fotos von ihr und dem Bundespräsidenten, der sie warmherzig begrüßte und ihr so liebevoll zu ihrem 102. Geburtstag gratulierte, wurden in etlichen Medien publiziert.
Vor etwas über einem Jahr traf ich sie zum letzten Mal bei einem Solidaritätskonzert mit Igor Levit, der sich für die Freilassung der Hamas-Geiseln einsetzte. Nach dem offiziellen Teil sprach Margot Friedländer mit Idit Ohel, deren Sohn Alon heute noch in Geiselhaft ist. Ich stand neben den beiden, als Margot Friedländer ihr sagte: »Geben Sie die Hoffnung nicht auf, Sie müssen weiterkämpfen.«
Mit zarter Stimme las sie aus ihrem Buch »Versuche, dein Leben zu machen« vor
In den letzten Wochen wurde sie immer schwächer. »Das Herz macht nicht mehr so richtig mit, nach zwei Schritten stolpert es«, sagte eine gemeinsame Freundin. Dennoch schaffte es Margot Friedländer, diesmal im Rollstuhl, zur Gedenkstunde zum Kriegsende vor 80 Jahren ins Rote Rathaus. Mit zarter Stimme las sie aus ihrem Buch und forderte jeden auf, Mensch zu bleiben.
Zwei Tage darauf ist sie im Alter von 103 Jahren gestorben – an dem Tag, an dem ihr von Bundespräsident Steinmeier der große Verdienstorden ausgehändigt werden sollte.
Die Schüler der Sophie-Scholl-Schule hatten sie 2013 gefragt, was sie sich für ihr Leben gewünscht hätte. Sie antwortete damals: »Ich hatte gehofft, mit meinen Eltern und meinem Bruder zusammen zu sein und ein normales Leben führen zu können. Ich bin durch meine Erlebnisse anders geworden. Für euch hoffe ich, dass ihr ein normales demokratisches Leben erleben dürft.«
Bei einem unserer letzten Gespräche sagte sie: »Ich habe keine Angst. Das Leben hat mich geprägt. Nur wünschte ich, dass ich etwas jünger wäre.«
Wenn ich an »ihrer« Seniorenresidenz vorbeikomme, werde ich innehalten und mich mit Trauer, weil sie nicht mehr da ist, aber mit Freude, dass sie uns so lange bereichert hat, an sie erinnern. Und nicht nur dann.