Judith Neuwald-Tasbach, die Ehrenvorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, ist sichtlich aufgeregt. Jetzt ist es schon 15 Uhr, und gemeinsam mit Kathrin Pieren, der Leiterin des Jüdischen Museums im benachbarten Dorsten, wartet sie an der Gedenkstätte für die ehemalige Synagoge in Buer am Gustav-Bär-Platz auf zehn Besucher aus den Vereinigten Staaten. Es sind die Nachfahren von Gustav Bär, dem früheren Vorbeter der Jüdischen Gemeinde in Buer, der nach der Pogromnacht im November 1938 mit seiner Frau Hilde und den beiden Kindern Felix und Dina über den Atlantik hatte fliehen können und damit auch den Synagogenschmuck rettete.
Das Bethaus selbst wurde niedergebrannt, die Feuerwehr sah tatenlos zu. An seiner Stelle steht heute ein Hallenbad. Immerhin – ein Gedenkstein erinnert seit 1992 an die Zerstörung. Bär hatte vielen jüdischen Familien bei der Flucht vor den Nationalsozialisten geholfen.
Das Bethaus selbst wurde niedergebrannt, die Feuerwehr sah tatenlos zu
Schmuck Neuwald-Tasbach telefoniert, hält Ausschau – und dann kommen sie mit zwei Autos vorgefahren: Joyce Susskind Hancock, die Enkelin von Gustav Bär, und ihr Ehemann Jim Hancock sowie die beiden Söhne von Joyce und Jim und deren Familien: Bradley Hancock mit Freundin Chaunsey Regan und den Kindern Abby Hancock (13) und Ben Hancock (16) sowie Russell Hancock (48) mit Ehefrau Erika Carlson und den beiden Söhnen Sawyer (13) und Grady (10).
Judith Neuwald-Tasbach und Joyce Susskind Hancock fallen einander in die Arme. Joyce Susskind Hancock hat den Synagogenschmuck dabei, den ihr Großvater einst gerettet hat. Heute wird sie ihn der Gelsenkirchener Synagoge übergeben. Alle steigen aus, betrachten den Gedenkstein für die niedergebrannte Synagoge.
Ben Hancock findet es »spannend, das alles zu sehen – auch wenn es natürlich traurig ist, was damals passiert ist«. Der Amerikaner bedauert, dass von der alten Synagoge nichts mehr erhalten ist. »Aber es ist schön zu sehen, dass es ein Denkmal gibt und dass dem Ganzen Wertschätzung entgegengebracht wird.«
Bedauern, dass von der alten Synagoge nichts mehr erhalten ist
Dass seine Großmutter die geretteten Ritualgegenstände zurück nach Gelsenkirchen bringt, findet der 16-Jährige richtig. »Es war gut, dass die Sachen damals nach Amerika gebracht wurden. Und es ist auch gut, dass sie jetzt zurückkehren. Es ist etwas aus unserer Familiengeschichte – und es fühlt sich an, als würde sich ein Kreis schließen.«
Viel Zeit bleibt allerdings nicht, die Gastgeber drängen. Es geht weiter zur Synagoge in der Gelsenkirchener Innenstadt. Judith Neuwald-Tasbach erklärt den Besuchern, dass die Fahrt länger dauern könne. Iron Maiden spiele heute in der Schalke-Arena, die Anreise der Fans der Heavy-Metal-Band habe bereits begonnen. Die Straßen seien möglicherweise voll.
Waren sie aber nicht. Pünktlich um kurz vor 15 Uhr treffen sie alle in der 2007 eröffneten Synagoge in der Georgstraße ein, die heute das einzige jüdische Bethaus der Stadt ist. Hier übergibt Joyce Susskind Hancock die geretteten Ritualgegenstände der alten Synagogengemeinde der neuen. »Wir sind tief berührt, dass Sie alle heute hier sind«, sagt Slava Pasku, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, sichtlich bewegt. »Schon allein dass Sie die weite Reise auf sich genommen haben, bedeutet uns an diesem besonderen Tag sehr viel.«
Joyce Susskind Hancock glaubt, dass das Erbe ihres Großvaters in Deutschland sicher ist.
Die Gemeinde freue sich von Herzen über das Kommen und die Offenheit der Nachfahren von Gustav Bär – und ganz besonders über das kostbare Geschenk, das sie mitgebracht haben: den Synagogenschmuck, darunter ein wunderschöner Toraschild sowie eine Etrog-Dose aus der ehemaligen Synagoge in Buer.
»Diese Gegenstände sind nicht nur bedeutende Zeugnisse unserer gemeinsamen Geschichte – sie sind auch ein Zeichen der Rückkehr, des Vertrauens und eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft.«
Joyce Susskind Hancock sagt der Jüdischen Allgemeinen, dass es ihr sehr viel bedeute, den Toraschmuck nach Gelsenkirchen zurückzubringen. »Ich wollte das bereits seit vielen Jahren tun. Ich bin eine von nur zwei Überlebenden aus meiner Familie – von meinen Urgroßeltern, meinen Großeltern. Es war mir sehr wichtig, dass diese Gegenstände an ihren Ursprungsort zurückkehren.«
Sie glaubt, dass das Erbe ihres Großvaters in Deutschland sicher ist. »Wir haben über Hitler gesiegt.« Der Toraschmuck sei nicht geraubt oder zerstört worden, sondern nun wieder an seinem Platz in Gelsenkirchen.
Bürgermeisterin Martina Rudowitz schenkt den Gästen eine Kopie der Geburtsurkunde von Dina
Gelsenkirchens Bürgermeisterin Martina Rudowitz (SPD) schenkt den Gästen eine Kopie der Geburtsurkunde von Dina, der Tochter Gustav Bärs und Mutter von Joyce Susskind Hancock. In ihrer Rede sagt Rudowitz, sie freue sich sehr, gemeinsam mit der Gemeinde und den Nachfahren von Gustav Bär diesen einzigartigen Anlass begehen zu können. »Wir danken Ihnen von Herzen, dass Sie diese wertvollen Kultgegenstände der Stadt und der Gemeinde anvertrauen.«
Solche Rückgaben seien äußerst selten. »Das verstehen wir als großes Zeichen des Vertrauens in die jüdische Gemeinschaft von heute. Ich kann Ihnen versichern: Die Stadt Gelsenkirchen wird sich bestmöglich um diese liturgischen Objekte kümmern und dafür sorgen, dass sie würdig präsentiert und bewahrt werden.«
Der Nachmittag in der Neuen Synagoge endet für die Besucher mit einem Eintrag ins Gedenkbuch der Gemeinde Sachor, einem gemeinsamen Gebet zum Beginn des Schabbats und einem abschließenden Kiddusch.