Porträt der Woche

Bürojob? Nein danke!

»Ich finde, die Mainzer Synagoge ist wunderschön geworden«: Urs Kern (48) vor dem neuen Bau Foto: Rafael Herlich

Porträt der Woche

Bürojob? Nein danke!

Urs Kern ist Manager im Finanzsektor und sehr viel unterwegs in Europa

von Annette Kanis  23.11.2010 11:19 Uhr

Genf, Stockholm, Stuttgart – das waren die Stationen der letzten Tage. Meine Woche ist von Geschäftsreisen geprägt. Ich arbeite für eine auf den Austausch von Finanznachrichten spezialisierte Telekommunikations-Dienstleistungsgesellschaft. Dort koordiniere ich die Fachberatung »Firmenkundenanbindung und Auslandsgeschäft« innerhalb Europas. Die Zentrale befindet sich in Brüssel. Das heißt, ich bin wahnsinnig viel unterwegs.

Eine reine Bürotätigkeit kann ich mir nicht vorstellen. Wenn ich eine Woche nicht unterwegs bin, werde ich nervös. Dann bekomme ich das Gefühl, dass ich irgendwie nicht richtig arbeite. Dann sage ich mir, du musst raus.

Rückzug Dabei eine solide Struktur im privaten Bereich beizubehalten, ist schwierig. Ein stabiler Bestandteil für mich ist das Zuhause. Meine Familie, meine Wohnung – das sind meine Rückzugsorte. Einen festen Halt gibt mir die Religion. Da ich viel unterwegs bin, freue ich mich auf Freitagabend, den Besuch des Gottesdienstes und unseren Schabbattisch. Wir nehmen auch die Feiertage sehr ernst. Bei meinem Arbeitgeber habe ich von Anfang an kommuniziert, dass ich an diesen Tagen freinehmen möchte. Das stellt auch gar kein Problem dar, denn unsere Firma ist sehr international aufgestellt. Verschiedene Kulturen und Religionen sind eine Selbstverständlichkeit.

Sechs Jahre liegt meine Konversion jetzt zurück. Ich bin liberal übergetreten, gemeinsam mit meiner Frau Emmanuelle. Warum ich diesen Schritt gegangen bin, ist rational nicht so einfach zu erklären. Da kam vieles zusammen. Bei mir sind es zum einen familiäre jüdische Einflüsse. Mein Urgroßvater war Jude, der eine Christin geheiratet hat und sich taufen ließ. Ich selbst wurde sehr religiös erzogen im christlichen Glauben. Für mich spielte die Religion schon immer eine große Rolle. Nur wusste ich mit dem Christentum irgendwann immer weniger anzufangen und habe mich gleichzeitig immer mehr mit dem Judentum identifiziert.

Als ich mich dann mit 32 Jahren von meiner ersten Frau trennte, habe ich mich auch sehr stark mit der Religion auseinandergesetzt. Das war für mich ein Wendepunkt in meinem Leben. Eine Scheidung ist ja in der katholischen Kirche eigentlich überhaupt nicht machbar. Irgendwann bin ich dann aus der Kirche ausgetreten, da ich mich vom christlichen Glauben gelöst hatte.

Sonntagsschule Dass ich meine jetzige Frau kennengelernt habe, hat sicherlich auch zu meiner Entscheidung beigetragen. Das mag man jetzt Zufall nennen oder Fügung. Der Vater meiner Frau ist jüdisch, aber nicht ihre Mutter. Meine Frau ist in Paris aufgewachsen und jüdisch erzogen worden. Sie ist auf eine Sonntagsschule gegangen bis kurz vor der Batmizwa. Die durfte sie nicht machen, weil sie halachisch gesehen keine Jüdin war. Sie hat also eine jüdische Erziehung, galt aber nicht als Jüdin. Das hat ihr wehgetan, weil sie sich immer als Jüdin fühlte.

Als wir hier die Wohnung entdeckten, stellten wir fest, dass direkt um die Ecke die jüdische Gemeinde ist. Da haben wir gesagt: »So, jetzt reicht es, jetzt gehen wir zum Rabbiner.« Vielleicht musste ich den Schritt einfach machen, vielleicht wurde ich da hin gewiesen. Zufall oder Gottes Fügung.

Meine Familie hat nicht ablehnend reagiert, eher interessiert, vielleicht unsicher und etwas verwundert. Mein Vater war bestimmt auch ein klein wenig besorgt, aufgrund der eigenen Erfahrungen, die er als Kind mit jüdischen Vorfahren während der NS-Zeit machen musste. Er hat miterlebt, wie Onkel, Tanten und Cousins auswanderten oder ins KZ kamen. Auf der anderen Seite glaube ich, dass gerade mein Vater, der sich intensiv mit der jüdischen Familiengeschichte beschäftigt und der auch immer einen guten Kontakt zur jüdischen Gemeinde hatte, sich insgeheim gefreut hat, dass eines seiner Kinder zum Judentum zurückgekehrt ist.

Traditionen Durch den Übertritt haben wir unsere Gewohnheiten geändert. Wir versuchen, die jüdischen Traditionen zu leben. Christliche Feiertage spielen für uns keine Rolle mehr. Von dem Rest der Familie werden wir schon aus Höflichkeit nicht eingeladen. Meine Geschwister wissen, wir würden sowieso nicht kommen. Das ist schließlich eine Lebensentscheidung, die man da trifft. Wir haben uns für unseren Weg entschieden, und den versuchen wir, so geradlinig wie möglich zu gehen.

Nach der Halacha hat der Konvertit genau dieselben Rechte und Pflichten. Er ist Jude, da gibt es keine Unterschiede. Im täglichen Leben in der Gemeinde ist die Wirklichkeit manchmal ein bisschen anders. Das hängt auch damit zusammen, dass wir liberal übergetreten sind. Orthodoxe Rabbiner erkennen uns nicht als Juden an. Das ist in Einheitsgemeinden, wo der orthodoxe Ritus gepflegt wird, mitunter ein Problem.

Balanceakt Von den Gemeindemitgliedern werden wir eigentlich anerkannt. Es ist manchmal schwierig als Konvertit, da man selbst die Tradition nie erlebt hat und sie sich erarbeiten muss. Für die einen ist man vielleicht zu religiös und wird als orthodox betrachtet, für die anderen ist man möglicherweise nicht religiös genug – ein Balanceakt. Aber das ist für mich unwesentlich. Jeder muss für sich seinen Weg finden und darf sich nicht verunsichern lassen. Verantworten muss man sich schließlich nur vor Gott.

Das Hebräischlesen habe ich mir innerhalb von zwei Jahren mit Büchern und Lernkassetten selbst beigebracht, weil in Mainz kein Unterricht angeboten wurde. Gemeinden, die einen jüdischen Kindergarten und eine eigene Schule haben, beneide ich vor allem wegen unseres Sohnes, für den es diese Möglichkeiten nicht gibt.

Für meinen Übertritt musste ich eine Prüfung vor dem europäischen liberalen Beit Din ablegen. Drei Rabbiner haben Fragen gestellt über meine Beweggründe, über das Judentum und seine Feiertage, und sie haben geprüft, inwieweit ich Hebräisch lesen kann.

Nach der Prüfung und dem Untertauchen in der Mikwe hatte ich es geschafft. Dann geht das tägliche Leben los und das selbstverständliche Lernen. Vorher hatte ich auf ein Ziel hingearbeitet, den Übertritt. Das ist vielleicht einfacher zu bewerkstelligen als das Leben danach. Denn jetzt schaut niemand mehr nach, prüft kein Rabbiner. Man ist für sich selbst verantwortlich.

Grossereignis Der Bau der Synagoge war für Mainz ein Riesenereignis, auch für mich. Ich hatte mir für den Tag der Eröffnung extra Urlaub genommen. So konnte ich dabei sein, wie wir den letzten Morgengottesdienst im alten Gebetsraum abhielten, wie wir die Torarollen hinübertrugen und nachher auch bei der offiziellen Einweihung. Es war ein großes Ereignis.

Ich finde, die Synagoge ist ein wunderschöner Bau geworden. Inwieweit sie zu mehr religiösem Leben führt, wird die Zukunft zeigen. Momentan ist das Interesse groß. Der nächste Schritt, den die Gemeinde meiner Meinung nach gehen muss, ist, einen festen Rabbiner einzustellen. Ich wünsche mir, dass das Thema Judentum nicht nur Kulturstatus hat, sondern auch von der Religiosität, vom Kultus geprägt wird. Mit temporär eingesetzten Vorbetern und einem Wanderrabbiner ist das nicht zu erreichen.

Manchmal werde ich gefragt, ob ich schon in Israel war. Nein, leider noch nicht. Aber ich will da nicht einfach so hinfahren, denn es ist eine ganz besondere Reise. Wir wollen es tun, wenn unser Sohn Samuel in zwei Jahren seine Barmizwa hat. Das ist ein wunderschöner Anlass.

Aufgezeichnet von Annette Kanis

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