Porträt der Woche

Brotlose Kunst

»Die Augen machen mir Probleme. Sie sind so schnell angestrengt«: Sofia Timofeeva (64) im Atelier Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

Brotlose Kunst

Sofia Timofeeva lebt von Hartz IV. In Russland hängen ihre Bilder im Museum

von Katrin Diehl  14.05.2012 08:30 Uhr

Auf ein Bild muss man warten. Es fällt nicht vom Himmel. Man muss genau hinschauen auf ein Blatt, das im Wind weht, einen Stein auf dem Weg. Das inspiriert. Oder man muss etwas erleben. Etwas Neues. Für einen Künstler ist es nicht gut, immer an einem Platz zu bleiben. Er muss Orte wechseln. Dann gibt es ein Hier und Dort, und er kann vergleichen. Auch das inspiriert.

1994 bin ich mit meiner Familie von Sankt Petersburg nach Amberg in der Oberpfalz ausgereist. Vier Jahre später zogen wir um nach München. Deutschland ist zu unserem zweiten Zuhause geworden. Wir sind zufrieden. Wir haben eine kleine Wohnung mit einem Mini-Atelier. Die Leute über und unter uns sind freundlich, mehr weiß ich nicht von ihnen. Deutsche sind anders als Russen. Sie brauchen Zeit, sich zu öffnen.

Ich male, mein Mann malt, und auch unser Sohn Alexander, der mit seiner jungen Frau in Berlin lebt, malt. Um Alexander sorge ich mich besonders: Er hat seine Zukunft noch vor sich, und es ist so schwer, Künstler zu sein. Wir spüren das täglich.

Von unserer Kunst können wir nicht leben. Wir sind auf Sozialhilfe angewiesen. Wir strengen uns an, kümmern uns um Ausstellungen, können die beste Ausbildung vorweisen, aber es geht nichts voran. Trotzdem malen wir weiter. Das ist unser Leben, wir sind zufrieden, so wie es ist.

chaos Wir haben hier unsere Ruhe. Das Chaos in Russland liegt hinter uns. Vielleicht ziehen wir noch einmal um. Nach Berlin. Wir werden älter und wollen in der Nähe von Alexander sein. Das zu organisieren, ist nicht leicht. Außerdem gefällt mir München. Der Englische Garten ist wunderbar, und in den Pinakotheken weiß ich genau, wo welches Bild hängt, so oft habe ich die Häuser besucht. Magritte, Max Ernst, die Maler des Phantastischen Realismus mag ich besonders. Die Bilder sind ein bisschen verrückt. Aber so ist das Leben.

Früher bin ich viel häufiger in die Museen gegangen als heute, besonders an den Sonntagen. Da war der Eintritt frei. Aber meine Augen machen mir Probleme, sie sind so schnell angestrengt. Die Ärzte wissen auch nicht richtig weiter. Also helfe ich mir selbst. Ich nehme Vitamine und trinke Sankt-Leonhard-Wasser. Bei meiner Staffelei stehen zwei kleine Brunnen, die ich an- und ausschalten kann. Sie bringen dem Raum ein wenig Feuchtigkeit. Das beruhigt meine Augen. Manchmal lege ich nasse Watte auf die beiden Lider.

Wann immer ich kann, male ich. Zu jedem Bild höre ich die passende Musik. Also stehen im Atelier auch ein CD-Player und ein kleines Regal mit CDs. Ich liebe Chopin und Beethoven, aber auch moderne französische Musik. Manchmal malen wir, mein Mann und ich, gleichzeitig. Mir ist das aber nicht so angenehm, weil wir uns dann gegenseitig die Rücken zukehren.

Ärzte Mein Mann ist schwer herzkrank und hört nur noch wenig. Ich muss mich um ihn kümmern, und wir müssen viel zu Ärzten. Damit verbringen wir manchmal Tage. Dass es morgens erst so gegen neun Uhr bei uns Frühstück gibt, liegt daran, dass ich recht spät ins Bett komme. Der Haushalt hält mich auf Trapp. Ich sauge die Wohnung, wasche, bügle. Beim Bügeln läuft manchmal der Fernseher. »Wer ist wer?« heißt meine Lieblingssendung, sie läuft auf einem russischen Kulturkanal. Es geht darin um bekannte Persönlichkeiten.

Wir frühstücken also so gegen neun. Es gibt Tee, denn Kaffee ist nichts für ein krankes Herz. Nach dem Frühstück gehen wir spazieren. Etwa eine Stunde lang wandern wir zusammen durchs Grüne. Manchmal mache ich das auch alleine, dann nämlich, wenn mein Mann lieber Fahrrad fährt. Viktor ist sehr sportlich. Er spielt Tischtennis bei Makkabi. Er ist nicht jüdisch, aber man ist dort sehr gut zu ihm.

Von meinem russischen Mann habe ich noch nie ein schlechtes Wort über Juden gehört. Noch nie. Es gibt gute Russen, und es gibt schlechte, es gibt gute Juden, und es gibt schlechte. Wenn ein Mensch eine gute Seele hat, ist es egal, welcher Nationalität oder Religion er angehört.

Mein Vater war Jude, meine Mutter war Jüdin, aber unter dem kommunistischen Regime in Russland gab es kein jüdisches Leben, keinen Schabbat, keine Feiertage. Wir haben in einer Kommunalwohnung unter Russen gelebt. Mein Vater war ein Kommunist, ein kommunistischer Journalist, auch wenn er als Kind in einem Cheder gelernt hat. Meine Mutter war Wirtschaftswissenschaftlerin. Manchmal hat sie mir von ihrem Vater erzählt, der sehr religiös war, mit Pejes und allem, was dazugehört.

judentum Ich kann nicht sagen, dass ich mich für das Judentum besonders interessiere. Jüdische Literatur begeistert mich, aber ich lese auch anderes sehr gern, wie zum Beispiel im Moment Hermann Hesse. Mit Religion kenne ich mich nicht sehr gut aus. Wenn ich eine Einladung in meinem Briefkasten finde, besuche ich von Zeit zu Zeit die Gemeinde, das Kulturzentrum oder die Synagoge. Ich habe ein paar russischsprachige Freunde dort. Die deutschen Juden leben in einer anderen Welt.

Zu jeder Mahlzeit muss ich mir genau überlegen, was auf den Tisch kommt. Es geht ja um die Gesundheit meines Mannes. Das kostet seine Zeit. Es gibt kein Schweinefleisch, nur Rind, das stärkt die Knochen und das Herz, und es ist ein bisschen koscher. Ich denke, die jüdischen Speisegesetze sind sehr klug. Das ist mir früher nie aufgefallen, aber je älter ich werde, desto mehr sehe ich das so.

Manchmal gibt es bei uns Fisch. Viktor ist ein großer Angler. Er hat in Deutschland den Angelschein gemacht. 800 Fragen hat er beantwortet. Über Fische weiß er alles. Er fährt irgendwohin mit dem kleinen Auto unseres Sohnes oder mit dem Zug, und dann haben wir also Fisch auf dem Teller. Ich kann sogar Gefilte Fisch kochen. Das Rezept habe ich noch von meiner Mutter. Sie ist 1998 gestorben und liegt hier auf dem jüdischen Friedhof.

Wirbelsäule Zweimal in der Woche, immer Dienstag und Donnerstag vormittags, mache ich Sport. Ich gehe mit deutschen Frauen in ein Fitnessstudio ein paar Straßen weiter. Erst machen wir eine halbe Stunde lang Gymnastik, dann üben wir etwa 20 Minuten an den Geräten. Das tut meiner Wirbelsäule gut. Danach gehen wir ins Café nebenan. Wir sitzen zusammen und reden. Wenn eine Geburtstag hatte, feiern wir. Die Frauen sind wie Freundinnen. Wenn ich Probleme mit Ärzten habe oder so, dann helfen sie mir.

An Petersburg habe ich viele Erinnerungen. Ich vermisse diese Stadt, meine Straße, unsere Wohnung mit dem schönen Garten, die Newa, an deren Ufer meine Kunstakademie steht. In Petersburg hängen meine Bilder in den Museen. Ein richtig großes Gemälde zum Beispiel im Puschkin-Museum. Es stellt die Duellszene dar, bei der Puschkin schwer verletzt wurde.

Unter dem kommunistischen Regime ist es uns nicht schlecht gegangen. Wir haben mehr verdient als Ingenieure, jeden Monat kam ein festes Gehalt. Die Stadt gab uns Aufträge, wir malten für Fabriken, Kindergärten, Kulturzentren. Schwierigkeiten, weil ich Jüdin war, hatte ich nie. Ich bekam sogar für ein Bild, das ein Dorf mit seinen Bewohnern darstellte, den ersten Preis bei einem Malwettbewerb. Mit meinem Mädchennamen Wichman wäre das vielleicht anders gelaufen, aber nach meiner Heirat hieß ich ja Timofeeva, und alles war möglich.

Dann kam der Zusammenbruch des Sowjetsystems. Es herrschte Chaos. Wir dachten, es gäbe Krieg und die russischen Faschisten machten uns große Angst. Es ist gut, dass wir gegangen sind, auch wenn wir es hier so unendlich schwer haben.

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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