Porträt der Woche

Bewusst in Neukölln

»Ich lebe säkular«: Ofri Ilany (36) Foto: Stephan Pramme

Porträt der Woche

Bewusst in Neukölln

Ofri Ilany ist Historiker und will ein Zentrum für hebräische Kultur in Berlin gründen

von Alice Lanzke  16.06.2015 10:50 Uhr

Ich bin vor anderthalb Jahren nach Berlin gekommen, hauptsächlich wegen meines Post-Doc-Stipendiums an der Humboldt-Universität. Ursprünglich komme ich aus Arava, einem kleinen Dorf an der Straße nach Eilat im Süden Israels – mitten im Nirgendwo und ganz anders als Berlin. Dort ist nicht wirklich viel los, also ging ich für mein Geschichtsstudium nach Tel Aviv, wo ich auch meinen Doktor gemacht habe.

Meine Promotion drehte sich um Bibelforschung in der deutschen Aufklärung: Mich hat interessiert, wie die Geschichte des jüdischen Volkes in Deutschland im 18. und frühen 19. Jahrhundert verstanden wurde.

forschung Normalerweise wird dieses Verhältnis negativ gesehen, aber mein Fokus ist etwas ambivalenter: Die deutschen Gelehrten jener Zeit interessierten sich für das Alte Testament – sie studierten damit aber auch die Geschichte des jüdischen Volkes, und das macht es kompliziert.

Denn die Israeliten wurden als reines Ideal, als Modell für Gemeinschaft und Vorbild für politische Verfasstheit gesehen, so etwa von dem Philosophen Johann Gottfried Herder.

Erstaunlich ist dabei wahrscheinlich, dass Religion für mich privat gar kein Faktor ist. Ich würde mich als säkular bezeichnen, nicht als praktizierenden Juden. Ich esse zum Beispiel nicht koscher. Aber ich bin mit der Bibel groß geworden. Mein Vater war Zoologe und liebte die Bibel: Darin gibt es viele Tierbeschreibungen, und diese nutzte er, um die Natur Israels zu verstehen.

poesie In meiner Heimat wird die Bibel ohnehin nicht unbedingt als religiöses Buch gesehen, sondern mehr als historisches oder poetisches Werk. Diese Perspektive fußt auf einer langen Tradition. Die Bibel ist nach dem gängigen Verständnis der Beweis dafür, dass wir zu diesem Land gehören – diese Überzeugung vertrat etwa David Ben Gurion sehr stark. Ich selbst sehe sie allerdings weniger als politisches Dokument: Es erscheint mir etwas absurd, sich auf etwas zu stützen, das mindestens 2000 Jahre alt ist.

Mir ging es vielmehr darum, zu analysieren: Woher kommt dieses Verständnis? Nach meiner Promotion denke ich, die Ursprünge dafür liegen tatsächlich in Deutschland, in den Arbeiten von Herder oder denen des Theologen Johann David Michaelis. Angesichts der deutschen Geschichte mag dieses Ergebnis überraschen.

rolle Auch jetzt forsche ich weiter zur Rolle des Alten Testaments in der deutschen Kultur – mein Stipendium läuft noch bis Ende des Jahres. Ich hoffe, länger in Berlin zu bleiben. Insgesamt weiß ich noch nicht, was die Zukunft bringt, bin mir aber sicher, dass Berlin so oder so eine wichtige Rolle spielen wird.

Ich habe viele Freunde in der Stadt, meine Forschung beschäftigt sich mit der deutschen Geschichte, und Berlin ist mindestens meine zweite Heimat geworden. Kein Umzug ist heutzutage endgültig: Die Achse zwischen Berlin und Tel Aviv beinhaltet viele Punkte, an denen man leben kann.

Wir erleben eine sehr globale Zeit mit einer effektiven Kommunikation. Was ich damit sagen will: Die Bedeutung des geografischen Ortes ist nicht mehr so groß wie früher – auch wenn sie natürlich noch vorhanden ist. Gleichzeitig wird es einem einfach gemacht. Die Flüge sind günstig, man kann sich schnell entscheiden. Ich selbst war in den vergangenen anderthalb Jahren bestimmt sieben Mal in Tel Aviv.

Doch die unkomplizierte Verbindung ist nur einer der profaneren Gründe dafür, dass Berlin derzeit so beliebt bei Israelis ist. Hinzu kommt noch, dass bereits viele Israelis hier leben. Dadurch fühlt man sich nicht fremd.

vorfahren In meinen Augen reichen die Gründe für die Beliebtheit Berlins aber noch tiefer: Viele junge Israelis fühlen sich derzeit in ihrer Heimat entfremdet, nicht zuletzt wegen der politischen Atmosphäre. Die Existenz in Israel kann unsicher sein, nicht nur aus ökonomischer Perspektive. Man weiß nie, wann der nächste Krieg ausbricht.

Gleichzeitig fühlen einige eine Sehnsucht nach Europa, nach dem Land ihrer Vorfahren. Insgesamt lebt man hier entspannter und komfortabler – das geht mir zum Teil auch so, obwohl ich von den Ereignissen in Israel beeinflusst bleibe.

Gerade erst besuchte mich meine Mutter zum ersten Mal in Berlin, für mich war das sehr besonders und wichtig. Es hat ihr gefallen, trotz ihrer zwiespältigen Gefühle: Sie ist schon über 70, und für ihre Generation ist es schwerer zu akzeptieren, dass man mittlerweile wieder in Deutschland leben kann. Als ich entschied, nach Berlin zu ziehen, konnte sie das aber verstehen – ich hatte ja berufliche Gründe. Doch nicht meine gesamte Familie akzeptiert den Reiz, den die deutsche Sprache und die deutsche Kultur auf mich ausüben.

kultur Ich wohne bewusst in Neukölln, einem multikulturellen Bezirk mit heterogener Struktur. Ich mag die »Middle Eastern«-Atmosphäre, die hier herrscht, und vieles ist mir bekannt aus meiner Heimat, von der Sprache bis hin zum Essen. Unsicher habe ich mich hier als Israeli noch nie gefühlt. Allerdings bin ich auch nicht wie ein religiöser Jude gekleidet. Doch selbst, wenn ich mit meinen Freunden auf der Straße Hebräisch spreche, habe ich mich zu keiner Gelegenheit bedroht gefühlt.

Neukölln würde ich also definitiv nicht als No-Go-Area bezeichnen. Gemeinsam mit zwei Partnern habe ich nun eine Initiative gestartet, mit der wir ein hebräisches Kulturzentrum in Berlin etablieren wollen: Unter dem Namen »HaGymnasia« bieten Uri Ganani, Dani Issler und ich Lesungen, Diskussionen und Veranstaltungen für alle an, die an hebräischer Kultur und Sprache interessiert sind.

HaGymnasia soll dabei Vorteil aus der Tatsache ziehen, das hier so viele hebräischsprachige Künstler, Akademiker und Schriftsteller leben. Berlin ist einfach derzeit eines der größten Zentren für hebräische Kultur auf der ganzen Welt. Interessanterweise war das schon einmal so – Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Tradition, die der Holocaust unterbrach, wollen wir fortsetzen.

beständigkeit Wir glauben, dass bei den meisten jüdischen Aktivitäten in der Stadt Hebräisch immer noch nicht als lebendige Sprache gesehen wird, die von Juden, die in Berlin leben, gesprochen wird. In meinen Augen ist die israelische Community stattdessen sehr getrennt von der hiesigen jüdischen Gemeinde. Das hat meiner Meinung nach verschiedene Gründe: zum einen, weil viele Israelis kein Deutsch sprechen, zum anderen, weil viele säkular leben und möglicherweise eine ganz andere Perspektive auf das Judentum haben.

Fakt ist aber, dass Tausende Israelis in Berlin leben – das ist kein Trend, sondern etwas Beständiges. Damit sind sie ebenso ein wichtiger Teil der jüdischen Bevölkerung in der Stadt, eben mit ganz eigenen Bedürfnissen. Unser Kulturzentrum soll nicht bedeuten, dass sie nicht mehr Deutsch lernen sollen, aber im Moment habe ich das Gefühl, dass sie sich schon fast assimilieren müssen.

idee HaGymnasia wird vom Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg unterstützt – ich halte es für natürlich, dass an einem derartigen Ort Aktivitäten auf Hebräisch stattfinden. Wir hoffen, dass unsere Veranstaltungen Israelis aus Berlin und anderen Gegenden anziehen, aber auch Deutsche, die Hebräisch können.

Die Idee dazu hatte ich vor einem Jahr: Damals hatte ich einige englischsprachige Diskussionen organisiert, um dann festzustellen, dass 90 Prozent der Leute Hebräisch sprachen. Parallel dazu war ich auf einer hebräischsprachigen Veranstaltung in Neukölln, die aus allen Nähten platzte. Das war der Startschuss für HaGymnasia. Ich denke, unser Zentrum ist bedeutsam für die Entwicklung der hebräischen Kultur in Berlin – und jeder ist willkommen.

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