Porträt der Woche

Bewusst durchs Leben

»Wer aufmerksam durchs Leben geht, hat ein schöneres Dasein«: Eylam Langotsky (50) lebt in Berlin. Foto: Marco Limberg

Seit knapp neun Jahren wohne ich in Berlin-Prenzlauer Berg. Ich fühle mich hier sehr wohl. Wir haben eine tolle Wohnung mit viel Platz für uns alle. Wir – das sind Claudia, meine langjährige Freundin, und Jacob, unser 14 Monate alter Sohn. Dass ich einmal Vater werden würde, hätte ich nicht gedacht. Meine Eltern hatten mich in dieser Hinsicht bereits aufgegeben. Von meinen Geschwistern hatten sie längst Enkelkinder bekommen, aber von meiner Seite kam und kam nichts.

Jetzt bin ich Anfang 50 – und ein sehr, sehr glücklicher Vater. Claudia war die treibende Kraft. Sie war es auch, die für unseren Sohn den passenden Vornamen fand. Eines Tages kam sie nach Hause und meinte: »Warum nennen wir ihn nicht Jacob?« Ja, warum nicht Jacob? So hieß mein Vater. Dass ich nicht selbst darauf gekommen bin! So ist das manchmal.

Die Geschichte meines Vaters ist eine tragische. Ich bin als Halbwaise aufgewachsen. Als mein Vater starb, war ich gerade einmal drei Jahre alt. Wir lebten damals in Jerusalem. Dort wurde ich auch geboren. Unser Stadtviertel Abu Tor lag im Grenzgebiet. Wenn wir über die Straße blickten, sahen wir jordanische Soldaten.

sechstagekrieg Meine Mutter Ruthi arbeitete als Fremdsprachenkorrespondentin, mein Vater studierte Medizin. Bis 1967 lebten wir ein ruhiges Leben. Dann kam der Sechstagekrieg. Mein Vater wurde eingezogen, er gehörte den israelischen Fallschirmspringern an.

Wie genau er gefallen ist, haben wir nie erfahren. Er wurde 30 Jahre alt. Sein Kampf sei eine große Ehre gewesen, so wird die Geschichte heute offiziell erzählt. Die israelischen Truppen hatten damals innerhalb kürzester Zeit den Sinai und den Gazastreifen erobert sowie die Golanhöhen und das Westjordanland mit Ost-Jerusalem und der Altstadt. Doch mich hatte der Krieg traumatisiert. Er war einer der Gründe, weshalb ich nie Kinder haben wollte.

Meine Mutter heiratete später erneut. Ich änderte meinen Namen. Ich nahm den Nachnamen meines Vaters als Vornamen an: Aus Alon wurde Eylam. Langotsky ist der Nachname meines Stiefvaters. Und wenn man es ganz genau nehmen möchte, dann trage ich heute sogar einen Doppelnamen. Nämlich Buchmann-Langotsky. Buchmann – das ist der ursprüngliche Nachname meiner Großeltern väterlicherseits. Als sie 1933 von Deutschland nach Israel emigrierten, wurde ihr Name hebraisiert.

märchen Dass ich heute in Deutschland lebe, ist meine Form des Tikkun Olam. Hier schließt sich ein Kreis, dessen bin ich mir sicher. Meine Eltern können das nicht nachvollziehen. Sie verstehen nicht, warum ich hier lebe.

Interessanterweise war mir Deutschland nie fremd. Meine Großeltern erzählten mir oft davon. Meine Oma las mir Märchen vor, auch jenes von Hänsel und Gretel, die sich im Wald verlaufen. Ich habe meiner Oma immer gesagt: »Aber Oma, die können doch gar nicht verloren gehen.« Meine Vorstellungskraft reichte dafür nicht aus – in Israel bestehen Wälder ja aus nicht mehr als zwei, drei Bäumen. Als ich dann während meines Studiums erstmals München besuchte, verstand ich, was meine Oma mit »Wald« meinte. Die Märchen hatten recht: Dort kann man sich wirklich verlaufen.

Studiert habe ich Intellectual History, ein Fach, das es in Deutschland in der Form nicht gibt. Übersetzt heißt es so viel wie »Geistesgeschichte«. Es geht dabei darum, den Geist einer Zeit, den sogenannten Zeitgeist, zu erfassen. Philosophie, Kunst, Religion, Politik, Recht und Wirtschaft – all das wird darin betrachtet.

studium Schon während meines Studiums beschäftigte ich mich mit dem Thema Körpertherapie. Ich lernte bei Avi Grinberg die Grinberg-Methode kennen. Er entwickelte sie in den 70er- und 80er-Jahren in Israel. Sein ganzheitlicher Ansatz beeinflusst mich bis heute in meiner Arbeit als Körpertherapeut.

Dass man durch den Körper lernen kann – und eben nicht nur durch den Geist –, war für mich revolutionär. Ich war richtig verwundert darüber, wie intelligent mein Körper ist.

Seit damals, seit den 90er-Jahren, arbeite ich als Körpertherapeut. Nach meiner Ausbildung war ich in Tel Aviv und Jerusalem tätig, später dann in Genf und Lausanne in der Schweiz – und seit einigen Jahren nun auch in Berlin. Ich arbeite mit meiner Lebensgefährtin Claudia zusammen. Sie hat in Prenzlauer Berg eine Körpertherapie-Schule aufgemacht.

In den Sitzungen sehe ich mich als Tourguide: als jemanden, der dem anderen dabei hilft, sich selbst besser zu verstehen. Hilfe zur Selbsthilfe – das ist das Konzept. Den menschlichen Körper fasse ich als einen direkten Vermittler auf, den der Mensch allerdings verlernt hat, zu verstehen. Ein Beispiel: Sie haben Bauchschmerzen, die wollen Sie am liebsten loswerden. Ich bringe meinen Klienten jedoch bei, sie zu akzeptieren, sie richtig wahrzunehmen und auf sie einzugehen. Dabei entwickle ich kurze Übungen, die sie in den Alltag integrieren können.

schlüssel Diese Arbeit beschäftigt mich nun schon seit so vielen Jahren, und trotzdem lerne ich stets noch dazu. Ich lese viele Bücher, auch von Psychologen und Gehirnforschern. Am Ende einer Lektüre sind die Seitenränder immer vollgeschrieben. Alles Wichtige ist unterstrichen. Ich kann mich in dem Thema verlieren. Das ist so spannend! Und auch magisch. Das Interessante ist, dass ich auch in der aktuellen Gehirnforschung die Tendenz zum Körper hin sehe. Es wird nicht mehr strikt zwischen Körper und Geist unterschieden. Nein, der Mensch wird heute als Ganzes wahrgenommen.

Ich fände es toll, wenn man diese Art des Körperbewusstseins schon in der Kita oder in der Schule lernen würde. Das wäre mein Traum: wenn alle Menschen von klein auf wüssten, wie sie sich selbst mehr Aufmerksamkeit schenken können. Aufmerksamkeit ist der Schlüssel zu allem, denke ich. Heute sind wir so oft nicht bei uns selbst. Ich sehe immer wieder Leute auf der Straße, die im Gehen noch schnell eine SMS tippen. Im schlimmsten Fall laufen sie dann gegen einen Baum oder gegen einen anderen Menschen.

Was ich sagen will: Wir sind oft nicht dort, wo wir eigentlich gerade sind. Ich vergleiche das Thema Aufmerksamkeit gern mit der französischen Küche. Dort wird alles mit Butter gekocht, weil es eben besser schmeckt. Wer aufmerksamer durchs Leben geht, hat ein schöneres Dasein. Davon bin ich überzeugt.

Familie Meine Lebensgefährtin Claudia kommt aus einer katholischen Familie. Aus der Kirche auszutreten, kommt für sie nicht infrage. Der Katholizismus ist bei ihnen Tradition.

Schon meine Großeltern väterlicherseits führten eine gemischte Beziehung. Mein Großvater war Jude, meine Großmutter Protestantin. Bevor sie heirateten, konvertierte sie. Es gibt da eine Familien-Anekdote. Als mein Opa den Eltern meiner Oma vorgestellt wurde, fragten sie sie: »Was ist er?« Meine Oma soll mit leiser Stimme geantwortet haben: »Jude.« Daraufhin sagten ihre Eltern: »Ach, Gott sei Dank, zum Glück kein Katholik!« In Claudias Familie denken sie heute: »Zum Glück kein Muslim.« So ist das mit den Religionen.

Claudias erste Erfahrung in Israel ist auch eine kleine Geschichte wert. Sie hatte sich in einem jüdisch-orthodoxen Viertel verirrt. Dort wurde sie mit Steinen beworfen, weil sie kurzärmelig war. Verrückt, oder?

Religion Ich habe Respekt vor den Religionen, vor dem Glauben. Aber ich liebe die geistige Freiheit und das Leben als Rock ’n’ Roll. Deshalb habe ich Israel am Ende auch verlassen. Das Land wird immer enger und aggressiver. Das ist meine ganz persönliche Meinung. Es war ein erdrückendes Gefühl, dort zu leben. Ich musste raus.

Mein Sohn darf später einmal selbst entscheiden, ob er religiös leben möchte oder nicht. Ich bin gespannt, welche Wahl er trifft. Ich möchte ihm allerdings etwas von der jüdischen Tradition mitgeben. Ich spreche mit ihm viel Hebräisch. Den Schabbat haben wir in unserer Familie ebenfalls bereits etabliert. Zu den Hohen Feiertagen würde ich mit ihm gern in eine Synagoge gehen. Ich weiß allerdings noch nicht, welche für uns die richtige ist.

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