Erinnerungen

Auf einen Tee in Charlottenburg

Ihre erste Erinnerung an Berlin ist allenfalls verschwommen. Bedeckt von dunklen Schatten, eine Ansammlung von Zerrbildern. Zum Beispiel von einem Besuch im KaDeWe, gemeinsam mit ihrer Mutter, die sie auf eine Konferenz – in die damals noch geteilte Stadt – begleitete. »Ich war ungefähr Mitte 20 und befand mich gerade in einer eigenartigen Phase«, sagt Maya Lasker-Wallfisch rückblickend.

»Gleich nach der Ankunft bin ich im Hotelzimmer verschwunden, für die kommenden zwei Tage habe ich es nicht mehr verlassen«, erinnert sich die Schriftstellerin. Damals wirkte Berlin erdrückend auf die junge Frau. »Die Menschen außerhalb des schützenden Taxifensters erschienen mir bedrohlich. In meinen Gedanken sah ich in den Flüssen, deren Brücken wir überquerten, überall Blut. Ich war total überfordert«, erzählt Maya. Tochter der bekannten Cellistin Anita Lasker-Wallfisch, die einst im Mädchenorchester von Auschwitz spielte und dadurch den Holocaust überlebte.

novemberpogrom Mutter Anita, inzwischen 97 Jahre alt und in London lebend, hatte 1938 ihren Cello-Unterricht bei Leo Rostal in Berlin aufgenommen. Nur einen Tag nach dem Novemberpogrom riefen die besorgten Eltern, Mayas Großeltern, das junge Mädchen zurück nach Breslau, wo die Laskers ihren Familiensitz hatten. Großvater Alfons war erfolgreicher Anwalt, Großmutter Edith Violinistin, die jüdisch-deutsche Familie mit drei Töchtern führte ein assimiliertes, bildungsbürgerliches, von Musik geprägtes Leben. Religiös waren sie nicht.

1942 wurden Mayas Großeltern nach Izbica deportiert und ermordet, für Maya Lasker-Wallfisch immer noch schwer zu fassen. Ebenjenen Großeltern, die sie nie kennenlernen konnte, hat sie ihr erstes Buch Briefe nach Breslau gewidmet, in Form eines fiktiven Dialogs in Briefform.

Für ihre Mutter Anita war es die Rückkehr in eine Stadt, in der wenige Jahrzehnte zuvor, am 20. Januar 1942, auf der Wannsee-Konferenz der Massenmord an den europäischen Juden organisiert wurde. Maya Lasker-Wallfisch wischt die Bilder, die sie immer wieder zu überwältigen drohen, mit einer Handbewegung fort. Sprechen wir vom Hier und Jetzt. Von ihr. Als eigenständige Persönlichkeit, als ebenfalls Betroffene, obgleich eine Nachgeborene. »Nicht nur bei der Elterngeneration handelt es sich um Flüchtlinge«, sagt die ausgebildete psychoanalytische Psychotherapeutin. »Oftmals bleiben auch die Nachgeborenen ein Leben lang eben das. Flüchtlinge, die nirgendwo so richtig angekommen sind.«

visionen Reden wir über ihre eigenen Visionen, über ihren Mut, über die Kraft, sich aus einem Abgrund zu befreien, an dem sie zu zerbrechen drohte. Viele Jahre war sie drogenabhängig, führte ein unstetes Leben, wie sie sagt. Bis sie sich – mithilfe ihrer Mutter – aus alledem befreite und ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Indem sie all die Scherben und Fragmente eines Traumas zu einem ziemlich stabilen – und sich stetig weiterentwickelnden – Mosaik zusammenfügte. »Also wollte ich ein Buch für die Deutschen schreiben, in dem ich alles das zusammentrage, was mich, was Menschen wie uns so lange sprachlos gemacht hat.«

Sprechen wir von ihrer Entscheidung, als 64-jährige gebürtige Britin mit jüdisch-deutschen Wurzeln in die Stadt der Richter und Henker zu ziehen, nach deren Willen sie heute überhaupt nicht existieren würde, hätten sie dereinst gesiegt. Reden wir von der überwältigenden – fast nicht zu begreifenden – Entscheidung, mit fast Mitte 60 noch einmal einen Neustart zu wagen.

Die Tochter einer lebenden Legende, der es so schwerfällt, einmal nur von sich und nicht von ihrer Mutter zu sprechen, lacht. »Ja, das stimmt schon, ich bin meiner Mutter sehr verbunden, auch wenn wir total unterschiedlich sind. Aber mit meiner Entscheidung, nach Berlin zu ziehen, war sie erstaunlicherweise einverstanden!«

Im Berlin von heute fühlt sich die Schriftstellerin weitgehend heimisch.

Heute sehe sie Berlin vollkommen anders. Eine andere Stadt. Eine andere Zeit. Ein anderes Leben. »Seitdem ich hier lebe, seit etwas über einem Jahr, fühle ich mich wohler als in über sechs Jahrzehnten in London, wo ich mich immer fremd gefühlt habe. Alles erschien mir dort irgendwie falsch.« Im Berlin von heute hingegen fühle sie sich weitgehend heimisch, »wenngleich mich zuweilen noch ein merkwürdiges Gefühl überkommt«. Die Stadt inspiriere sie.

Lange Zeit sei sie depressiv gewesen. Doch wer ihren Schilderungen folgt, merkt auch schnell, über wie viel Humor die neue Wahlberlinerin verfügt. Wie viel Lebensfreude in ihr steckt. »Inzwischen wache ich jeden Morgen auf und kann mein Glück kaum fassen, wenn ich mich so in meinem neuen Zuhause umschaue!« In ihrem Charlottenburger Kiez.

»Wo sonst rufen Menschen spontan an und fragen, ob man Lust auf einen Kaffee hat?« In London sei ihr das jedenfalls nie passiert. Auch der Wochenmarkt auf dem Karl-August-Platz sei absolut großartig. Ganz zu schweigen von den vielen tollen Flohmärkten! »Das sind solche Glücksmomente für mich!«, sagt eine, für die ein Wort wie »Glück« bislang immer verboten schien.

sammelsurium Lasker-Wallfisch umgibt sich in ihrer frisch bezogenen Berliner Altbauwohnung mitten in Charlottenburg mit einem Sammelsurium aus vielen schönen Dingen aus den verschiedensten Epochen. Alles liebevoll zusammengetragen: ein Mix aus Erbstücken, Reiseutensilien und Flohmarktfunden. »Alles hat eine Geschichte.« »Very British« nimmt sie ein Tablett mit einem bunt bemalten Teegeschirr samt einem Schälchen Buttergebäck und stellt es behutsam auf ein kleines Tischchen.

Im sogenannten »Lasker Salon«, wie sie ihr zweites Wohnzimmer nennt, hängen Bilder von ihrer Mutter und von der geliebten Tante Renate an der Wand. »Mein Schutzengel«, sagt Maya. Ihre Tante überlebte gemeinsam mit Mutter Anita die Hölle von Auschwitz. Nun schaut sie vom Foto der Wand herab. Darunter eine Ansammlung von Familienfotos. Selbst wenn niemand mehr lebt, für Lasker-Wallfisch ist die Familie immer noch sehr präsent. Auf der gegenüberliegenden Seite lädt eine gemütliche Couch zum Verweilen ein. Von einer altertümlichen Seidendecke mit Stickereien bedeckt. Viele bunte Kissen runden den Lieblingsplatz der Schriftstellerin ab, die schon wieder an zwei neuen Projekten parallel arbeitet.

Mit einer Tasse Tee in der Hand wandert sie schließlich auf den Balkon, der an diesem goldenen Oktobertag einen Blick über die Dächer Berlins bietet. Kaum ein Wölkchen am Himmel, die Sonne scheint, und obgleich wegen der gestiegenen Gaspreise gerade Energiesparen angesagt ist, hat sie dennoch ein wenig die Heizung aufgedreht. »Eigentlich habe ich ja auch mitten in der Pandemie den Entschluss gefasst, in diese Stadt zu kommen«, sagt die Frau mit den ausdrucksstarken Augen, die von einem Moment auf den anderen von tiefsinnig und melancholisch zu heiter zu wechseln vermag.

bücher Zwei Bücher hat sie geschrieben, um ihre Traumata und die ihrer Familie zu verarbeiten. Ganz nebenbei hat sie sich noch einmal neu erfunden. In Briefe nach Breslau hat sie der allgemeinen Sprachlosigkeit eine Stimme gegeben. Eindringlich schildert sie das transgenerationale Trauma, welches ihr Leben als Nachgeborene immer noch bestimmt, in einer poetischen Sprache. Ihr Debüt wurde ein großer Erfolg.

Soeben ist ihr zweites Buch Ich schreib euch aus Berlin erschienen. Zentrales Thema ist die »Rückkehr in ein neues Zuhause«, wie es im Untertitel heißt. Für die Zukunft in diesem »neuen Zuhause« hat sie bereits viele Pläne. »Mir schwebt gerade einiges vor; ein weiteres Buch, ein Film und dann noch so etwas, wie ein Berliner Salon«, sagt sie. Damit will sie in Zukunft an eine sehr alte Berliner Tradition anknüpfen.

Maya Lasker-Wallfisch: »Ich schreib euch aus Berlin. Rückkehr in ein neues Zuhause«. Insel, Berlin 2022, 168 S., 24 €

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