Projekt

Auf den Spuren von Niche S.

»Writing Girl« Sharon Kuckuck (l.) und Projektleiterin Sharon Adler im Kreuzberger Aviva-Büro Foto: Gregor Zielke

Anmerkung der Redaktion (2. August 2023):

Als dieser Text von Fabian Wolff in der Jüdischen Allgemeinen erschien, glaubte die Redaktion Wolffs Auskunft, er sei Jude. Inzwischen hat sich Wolffs Behauptung als unwahr herausgestellt.

Wenn Sharon Kuckuck vor die Haustür tritt, dann ist sie mit Geschichte konfrontiert. Denn seit fast einem Jahr liegt vor dem Schöneberger Mietshaus ein Stolperstein für Niche Scherl, die 1895 geboren und 1941 ermordet wurde. Täglich hat Kuckuck diesen Namen und Zahlen gelesen und irgendwann wollte die gebürtige New Yorkerin, die seit vielen Jahren in Berlin lebt, wissen, wer Niche Scherl war und welches Leben dahinter steht.

Für genau solche Nachforschungen hat die Seite www.aviva-berlin.de das Projekt »Writing Girls« gestartet. »Wir versuchen immer, Geschichten über Frauen zu entdecken, weil die anderen Medien sich darum nicht wirklich kümmern«, sagt Herausgeberin und Chefredakteurin Sharon Adler.

»Writing Girls« konnte mithilfe der »Stiftung Zurückgeben« entstehen. Das Ziel: Jüdische Frauen, mit und ohne Schreiberfahrung, verfassen Reportagen über jüdische Frauen in Berlin, die vergessen oder gänzlich unbekannt sind. Kaum war der Aufruf auf der Seite veröffentlicht, kamen die Rückmeldungen – die entferntesten aus Montana und Südamerika. Nicht jede wusste, über wen sie eigentlich schreiben wollte. Für Sharon Kuckuck war das natürlich klar.

20er-Jahre Wie die meisten Teilnehmerinnen ist Kuckuck keine geborene Berlinerin. Ihren Mann, einen deutschen Bildhauer, traf sie in New York und kam mit ihm in den Neunzigern in die deutsche Hauptstadt. Sie wohnen in Schöneberg, »in dem gleichen Viertel, in dem ich auch in den Zwanzigern gewohnt hätte« – und in dem auch Niche Scherl gelebt hat.

Im April 2012 war die Verlegung des Stolpersteins für Niche Scherl. Kuckuck erinnert sich, dass eine kleine Gruppe, darunter Nachkommen von Scherl aus Israel, kamen, etwas auf Deutsch und auf Hebräisch verlasen, und sich eine Traube um sie bildete, was wiederum die Besitzer des Thai-Restaurants im gleichen Haus verärgerte, weil sie alle direkt vor ihrem Laden standen. Kuckuck sprach Ron, Niches Urgroßenkel, an. Sie erzählte ihm, dass im Haus jetzt wieder eine jüdische Familie lebt und dass ihre Tochter bald Batmizwa wird. Später nimmt sie mit ihm Kontakt auf, um für ihren Artikel zu recherchieren.

Ron spricht daraufhin mit seiner Großmutter Pia, der Tochter von Niche, die, wie er in Israel lebt. »Es war eine empfindliche Angelegenheit«, sagt Kuckuck. »Ich war sehr aufgeregt und wollte unbedingt mit ihr reden, um mehr von der Geschichte von Niche zu erfahren. Man fühlt sich ein wenig wie ein Detektiv, der endlich Antworten haben will.«

Deutsch Gleichzeitig möchte sie sich aber nicht wie ein Eindringling benehmen. Sie schickt ein paar Fragen, die aber alle unbeantwortet bleiben. Ein befreundeter Historiker aus Israel bietet an, das Gespräch direkt mit ihr zu führen, auf Hebräisch. Doch das will Pia nicht, sagt ihr Enkel – sie will Deutsch sprechen. »Also haben wir endlich das Interview am Telefon. Dann kommt sie an den Hörer und: möchte kein Wort auf Deutsch sagen.«

Trotzdem erfährt Kuckuck einiges von Pia, und führt noch ein zweites Interview mit ihr. »Ich stelle ihr Fragen, sie beantwortet manche von ihnen. Ich merke, dass sie wirklich etwas zu erzählen hat. Und es überwältigt mich, weil ich merke, dass ich an die ganze Geschichte niemals rankommen kann.«

Und das ist es, was Kuckuck heute weiß: Niche Scherl kommt aus Galizien, ihre Eltern hießen Sara und Pinkhas. Zusammen mit ihrem Mann Julius hat sie einen Laden in der Goltzstraße, wo heute das besagte Thai-Restaurant ist. Sie verkaufen Möbel, Teppiche, Porzellan. Das Paar hat zwei Töchter, Pia und Rita, und einen Sohn, Simson. Die Kinder spielen Klavier und schwimmen gerne. »Sie führen ein gutes Leben«, sagt Kuckuck, »bis dieser schreckliche Mann an die Macht kam«.

Julius stirbt im Dezember 1937 an einem Herzinfarkt. Nach der Pogromnacht 1938 ist der Familie klar, dass sie so schnell wie möglich fliehen müssen. Pia kommt mit einer illegalen Schiffspassage nach Palästina, ihre Schwester mit einem Kindertransport nach London. Simson und ihre Mutter Niche bleiben in Berlin. Am 27. November 1941 werden sie von Berlin nach Riga deportiert. Drei Tage später werden sie im Wald von Bikernieki erschossen.

Kontakt Warum Simson in Berlin geblieben ist, weiß Sharon Kuckuck nicht, und sie hat es Pia auch nicht gefragt. »Sie hat mir gesagt, was sie mir sagen wollte. Es ist ihre Geschichte und ich muss sie so erzählen, wie sie es will.« Kuckuck hat noch Kontakt zu ihr. Zur Batmizwa ihrer Tochter hat die Familie ihr ein Geschenk geschickt und sie nach Israel eingeladen. »Es ist eine seltsame Beziehung«, sagt Kuckuck. »Wir sind keine Verwandten, aber sie sind sehr dankbar, dass ihre Geschichte jetzt erzählt ist. Aber ich fühle mich trotzdem wie eine merkwürdige Überbringerin dieser Botschaft.« Sharon Adler hat erwartet, dass der Arbeitsprozess aufwühlend werden würde. »All diese Frauen bringen ihre eigenen Leben ein.«

Andere Teilnehmerinnen von Writing Girls beschäftigen sich mit der Salonnière Rahel Varnhagen von Ense, mit der Malerin Charlotte Salomon, der Tänzerin Tatjana Barbakoff – und der eigenen Biografie. »Es geht darum, nicht nur die Leben dieser Frauen aufzuarbeiten, sondern auch ein Stück weit sich selbst.« Das Projekt geht immer weiter und andere Artikel werden auf der Aviva-Seite veröffentlicht. Weil die Förderung von der »Stiftung Zurückgeben« auf das Jahr 2012 begrenzt war, kann man jetzt »Patinnenschaften« für einzelne Projekte übernehmen, um Übersetzung und Recherche zu finanzieren. Der Hentrich & Hentrich Verlag plant, ein Buch herauszubringen.

Vielfalt »Wir wollen aus der Vergangenheit etwas Neues schaffen«, sagt Sharon Adler. Für die Redakteurin Britta Meyer, die gemeinsam mit Adler das Projekt initiiert hat, geht es auch darum, die Vielfältigkeit von jüdschem Leben und Judentum in Berlin zu zeigen – fernab von Klischees. Gerade das war Sharon Kuckuck wichtig: Sie wollte über eine Frau schreiben, die nicht berühmt ist, sondern ein normales Leben geführt hat. Die Arbeit hat auch ihr Verhältnis zu Berlin verändert. »Wenn man schon am Leben ist, dann sollte man auch leben. Ich bin nicht traurig, dass ich hier bin. Aber es kann ein trauriger Ort sein.«

Das Projekt »Writing Girls« – Jüdische Frauengeschichte(n) wird am Donnerstag, 21. Februar, um 19 Uhr in der Inselgalerie vorgestellt.

www.aviva-berlin.de

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