Reportage

»Angst ist Alltag«: Juden in Deutschland fühlen sich allein

Polizisten vor der Synagoge Fraenkelufer in Berlin: Ohne Polizeischutz ist jüdisches Leben kaum möglich. Foto: IMAGO/Rolf Kremming

Als Rabbinerin Jasmin Andriani im Sommer mit einer Gruppe das Synagogen-Mahnmal in Göttingen besuchte, das an deren Zerstörung 1938 erinnert, riefen Passanten ihnen im Vorbeigehen zu: »Und was ist mit den Kindern in Gaza?« Sie sei während der ganzen Veranstaltung unruhig gewesen und habe die Umgebung beobachtet. »Man muss leider zur Zeit immer mit etwas rechnen.«

Andriani ist in Israel geboren, kam als Zweijährige nach Berlin und ist hier aufgewachsen. »Es war nie ganz unbefangen, in Deutschland als Jüdin zu leben. Auch ich bin als Kind in einen umzäunten und bewachten jüdischen Kindergarten gegangen. Aber jetzt haben die Bedrohungen massiv zugenommen.«

Das belegen Zahlen der Meldestelle Rias, die antisemitische Vorfälle dokumentiert: Demnach gab es im vergangenen Jahr mehr als 8.600 antisemitischen Zwischenfälle in Deutschland - ein Anstieg um fast 77 Prozent gegenüber 2023. An den Hochschulen hat sich laut Angaben die Zahl der Fälle verdreifacht. Seit dem 7. Oktober 2023 - dem Angriff der islamistischen Hamas auf Israel mit mehr als 1.200 ermordeten Menschen und dem sich anschließenden Krieg in Gaza - ist Antisemitismus auf deutschen Straßen sichtbar geworden.

Hass-Graffiti auf Hauswänden

»Free palestine - Fuck Israhell« oder »Free Palestine - Death to Israel«: Solche Slogans finden sich als Graffiti auf Hauswänden oder als Aufkleber auf Laternenpfählen. Und wer durch einen Park radelt, dem kann es passieren, dass er hört, wie sich Kinder die gleichen Sprüche sorglos beim Spielen zurufen.

»Ein großer Teil der Juden in Deutschland war noch nicht einmal irgendwann im Urlaub in Israel«, sagt Andriani. »Manchmal frage ich mich: Was habe ich damit zu tun? Ich habe nicht Netanjahu gewählt. Aber auf der anderen Seite weiß ich: Natürlich geht mich, geht alle Juden, Israel etwas an.«

Sie erzählt, wie sie kurz nach dem 7. Oktober mit ihrer Familie zufällig in eine palästinensische Demonstration in Berlin geraten sei. Die neunjährige Tochter fragte, was es damit auf sich habe. »Das ist die palästinensische Flagge. Das sind Israels Nachbarn«, habe sie ihr daraufhin erst einmal erklärt, erzählt Andriani. »Darauf sagte meine Tochter: ›Wenn es unsere Nachbarn sind, dann sind es auch unsere Freunde.‹ « Andriani schluckt schwer, als sie das erzählt. »Bei uns im Haus ist das auch so. Da sind unsere Nachbarn unsere Freunde. Es ist traurig, wenn man die Naivität von Kindern zerstören muss.«

Mit jüdischer Identität unbefangen umgehen

Trotzdem versuche sie, ihrer Tochter »nicht zu sagen, dass sie kein Hebräisch in der Öffentlichkeit sprechen soll und auch nicht, dass sie niemandem sagen soll, dass sie jüdisch ist.« Sie solle mit ihrer jüdischen Identität unbefangen umgehen können. Diese Haltung falle ihr nicht immer leicht, weil sie sich um die Sicherheit ihrer Familie in Berlin »Riesensorgen« mache.

Auch sie selbst bedenke ihr Verhalten mehr als früher: Wenn sie in der Berliner U-Bahn die »Jüdische Allgemeine« lese, versuche sie etwa sicherheitshalber die Titelseite mit dem Namen der Zeitung zu verbergen. »Dabei ist grundsätzlich mein Anspruch, als stolze Jüdin hier zu leben«, sagt die 40-Jährige.

Über die Entscheidung, ihre Tochter in eine jüdische Bildungseinrichtung und nicht in die Kiezschule zu schicken, ist sie im Nachhinein froh: »Sonst müsste sie jetzt auf dem Schulhof ganz schön was aushalten.« Die Konsequenz sei aber, dass ihre Kinder in einer jüdischen Bubble groß würden. Und eigentlich will Andriani ja das Gegenteil - Normalität: »Es wäre schön, wenn wir hier in Deutschland mehr wären, wenn es einfach normal wäre, auf der Straße einen Juden mit Kippa zu sehen. Dann würden die Leute den einen, den sie mal sehen, nicht so befremdlich angucken.«

200.000 Juden gibt es in Deutschland. Dem Islam gehören über fünf Millionen Menschen hierzulande an. Auch wenn es Muslimen gegenüber auch Rassismus gibt: Er ist kein Alltag. »Wenn ich eine Muslima mit Kopftuch auf der Straße sehe, denke ich bewundernd: ›Du hast es gut, Du kannst Deine religiösen Objekte zeigen und musst nicht um Dein Leben bangen‹ «, sagt Andriani.

Kein Feindbild vermitteln

Es sei ihr wichtig, »kein Feindbild zu vermitteln oder mein Kind mit Hass zu impfen.« Eigentlich biete sich die jüdische Religion als Bindeglied zwischen Islam und Christentum an. Es gebe in beide Richtungen viele Berührungspunkte. Als Rabbinerin ist ihr die Begegnung mit anderen Religionen und der gegenseitige Respekt wichtig.

Auswandern kommt für die Berlinerin trotz allem nicht in Frage. »Ich bin hier Zuhause!«

Manchmal findet sie, dass die Juden hierzulande mutiger sein müssten und sich nicht verstecken sollten. »Ich lasse mir doch nicht vorschreiben, was zur deutschen Kultur gehört«, sagt sie mit Nachdruck. »Weder der Hamas-Anhänger noch der Neonazi sind Mainstream. Ich bin es!« Aber gleichzeitig wünscht sie sich auch mehr Hilfe von der nicht-jüdischen Mehrheitsgesellschaft. »Allein schaffen wir das nicht, dafür sind wir zu wenige. Wir brauchen Unterstützung.«

Davidstern als Solidaritätsbekundung

Jonathan K., der eigentlich anders heißt, will Unterstützung geben. Der gelernte Tischler trägt seit dem 7. Oktober 2023 oft in der Öffentlichkeit bewusst eine Kette mit Davidstern um den Hals - obwohl er selbst nicht jüdisch ist. »Wenn jeder von uns hierzulande so einen Stern trüge, könnte nichts passieren. Dann wäre man als Jude nicht sichtbar.«

» ›Free Palestine‹ « sagten viele Menschen im Vorbeigehen, wenn sie ihn sehen, erzählt er. »Das ist schon Alltag.« Vor ein paar Wochen wurde er in Berlin am helllichten Tag im Park, in dem er mit seinem Hund unterwegs, von einem Mann mit einem Messer bedroht. »Du Kindermörder!«, habe der Mann, der ein Palästinensertuch trug, gerufen. Die daraufhin alarmierte Polizei nahm den 29-Jährigen - einen Österreicher mit einem nicht-europäischen Migrationshintergrund, wie es hieß - fest und wies ihn in die Psychiatrie ein.

Für Jonathan K. ist es selbstverständlich, »so nach außen zu gehen«, wie er es tut. »Das ist meine Verpflichtung«, findet er. »Meine halbe Familie väterlicherseits waren stramme Nazis. Ich fühle mich verantwortlich.« Eigentlich sei das die Verpflichtung von allen Deutschen, aufgrund der Geschichte. »Aber die Gesellschaft macht nichts«, bedauert er. Regelmäßig geht er freitags zur Mahnwache vor die Synagoge in Berlin-Kreuzberg. »Wir sind etwa 10 bis 15 Leute und stellen uns dahin, um Solidarität zu zeigen und dafür zu sorgen, dass die Menschen sicher zum Schabbat-Gottesdienst in der Synagoge gehen können. Wir haben keine Flaggen oder sonstige Zeichen. Wir sind einfach nur da«, erzählt er.

Juden werden mit ihren Sorgen nicht verstanden

Psychologin Marina Chernivsky, die die bundesweite Opferberatungsstelle OFEK leitet, sagt: »Solche solidarischen Aktionen sind von großer Bedeutung.« Viele Juden in Deutschland machten zur Zeit eher gegenteilige Erfahrungen: »Sie werden mit ihren Sorgen oft nicht verstanden. Nicht in der Schule, nicht in der Uni, nicht am Arbeitsplatz.«

Laut OFEK hat sich nach dem 7. Oktober 2023 das Beratungsaufkommen für Opfer von Antisemitismus gegenüber dem Vorjahr bis zum heutigen Tag versechsfacht, sagt Geschäftsführerin Chernivsky. Zusätzlich sei die Dunkelziffer sehr hoch. Schmierereien an Briefkästen oder Haustüren, verbale oder körperliche Angriffe: Insgesamt 1.858 Beratungsfälle hat OFEK in den zwölf Monaten nach dem Massaker aufgenommen und beraten. Das sei eine Steigerung auf ein Fünffaches im Vergleich zu den zwölf Monaten vor dem 7. Oktober.

Die betroffenen Juden in Deutschland begleite immer mehr ein Gefühl, selbst wachsam sein zu müssen, berichtet Chernivsky: »Polizei kann Synagogen schützen, aber nicht den Alltag von Menschen.« Antisemitismus komme in allen gesellschaftlichen Bereichen vor: von rechts, von links, aus der Mitte der Gesellschaft. Auch Menschen, die selbst keinen Übergriff erlebt hätten, spürten das veränderte Klima. Es verbreite sich das Gefühl: »Als Juden sind wir alle gemeint.«

Passivität von der Mehrheitsgesellschaft

Zudem habe die Mehrheitsgesellschaft auf den 7. Oktober mit spürbarer Passivität reagiert. »Nach den Anschlägen folgte ein kurzer Moment des Innehaltens - aber er verflüchtigte sich schnell«, sagt Chernivsky. Hinzu komme: Der historische Kontext sei immer da. »Was heißt es für Juden und Jüdinnen, in Deutschland nach dem 7. Oktober von erneuter Bedrohung umgeben zu sein? In einem Land, wo viele Familien durch die Schoa Bezug zu Verfolgung und Vernichtung haben?«

Die jüdische Gemeinschaft erlebe eine Retraumatisierung. »Familien, deren Kind heute Mobbing in der Schule erlebt, erkennen darin die Vergangenheit von Groß- oder Urgroßeltern wieder. Die aktuelle Erfahrung legt sich wie eine neue Schicht auf die überlieferten Erinnerungen«, sagt Chernivsky.

So ist es auch bei Jasmin Andriani. Zahlreiche Verwandte wurden in Konzentrationslagern ermordet, ihrer Berliner Großmutter gelang es gerade noch rechtzeitig, vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach Israel zu emigrieren. »Für mich ist das nicht weit weg«, sagt sie.

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