Selbstverteidigung

»Alles, nur nicht abwarten«

Kontrolle übernehmen, um die Auseinandersetzung zu verhindern: das Ziel von Krav Maga Foto: Marco Limberg

Meine Nase bohrt sich in die Trainingsmatte, während Katinka mir ein Knie in den Hals presst und das andere in meine Seite. Und wäre das Gummimesser in meiner Hand ein echtes, würde sie mir mit diesem »Kontrollgriff« wohl den Arm brechen.

Wir üben gerade Messer-Abwehr. Es ist mein erstes Mal Krav Maga, was übersetzt »Kontaktkampf« bedeutet und zur Grundausbildung der israelischen Armee gehört. Es ist die pragmatische Kombination einfacher und effektiver Techniken aus anderen Kampfsportarten und soll die Überlebenschancen erhöhen, wenn man selbst keine Waffe hat. Katinka macht das schon länger. Ich habe also keine Chance, obwohl sie schmaler ist als ich.

In Oliver Doron Hoffmanns Streetwise Academy trainieren viele Juden und Israelis

In Oliver Doron Hoffmanns Streetwise Academy in Wilmersdorf trainieren viele Juden und Israelis. In letzter Zeit mehr als sonst, sagt er. Die Verunsicherung ist groß in der jüdischen Gemeinschaft. Fast jeder hat Verwandte und Freunde, die vom Hamas-Angriff und dessen Folgen in Israel betroffen sind. Und die Reaktionen auf den Krieg bekommen Jüdinnen und Juden überall in der Welt zu spüren. Der Judenhass wird jetzt offen getragen. Von Jung und Alt, dumm und intellektuell, in Worten, mit Taten.

Also Baseballcap statt Kippa, die Kette mit dem Anhänger unterm T-Shirt tragen und im öffentlichen Raum auf gar keinen Fall Hebräisch sprechen. So lauteten die ersten Sicherheitshinweise. Manche haben ihre Kinder lieber gar nicht erst in den Kindergarten oder die Schule geschickt, meiden bestimmte Stadtbezirke ganz, packen Koffer ein und aus, stellen das flatternde Herz mit Pillen ruhig. Wut und Ohnmacht mischen sich angesichts perverser Verdrehung von Schuldzuweisungen, historischer Umdeutung und der eigenen Naivität. Der Antisemitismus war nie weg, er wächst und gedeiht. Und Juden müssen auf sich selbst aufpassen. Alles gute Gründe für Krav Maga.

Gerade gibt mir Trainer Olli eine Ohrfeige. Das ist eine Resilienzübung, damit man als friedensverwöhnter Westeuropäer nicht gleich in Schockstarre verfällt, wenn man körperlich angegangen wird. Das Gefühl ist wirklich nicht ohne. Nach kurzem Sammeln nehme ich etwas mehr Schwung, als ich Katinka in den Bauch boxen soll. Sehr gut, sagt Olli, und ich fühle mich schlecht. »Schlag ruhig doller zu«, fordert Katinka mich auf.

Jeder Mensch kann seine Verteidigungsfähigkeit verbessern.

Krav Maga teilt die Umwelt in vier Zonen ein: Das sichere Zuhause hinter der abgeschlossenen Tür ist die weiße Zone der Sorglosigkeit. Vor der Tür beginnt die gelbe Zone. Die erfordert eine generelle Aufmerksamkeit gegenüber Autos und fallenden Blumentöpfen genauso wie gegenüber Terroristen. Es folgt die orange Zone, in der etwas nicht ins Bild passt und deshalb meine ganze Aufmerksamkeit erfordert. Es muss nicht gleich ein Salafist in der Synagoge sein, aber definitiv der seltsame weiße Lieferwagen vor dem Kindergarten. Augen offenhalten und aufs Bauchgefühl hören, betont Olli. Damit verhindere man bereits die meisten der gefährlichen Situationen.

Für den verbleibenden Rest, mit dem wir in der roten Zone landen, der Auseinandersetzung, stoße ich gerade den nächsten Messer-Arm weg und renne. Im Krav Maga gehe es darum, Kontrolle zu übernehmen, um die Auseinandersetzung zu verhindern, sagt Olli. Das Gegenteil von Hilflosigkeit. Der Jackpot in diesen Zeiten! Karyna, eine junge Frau, die aus Odessa nach Berlin geflohen ist, weiß genau, wovon die Rede ist. Wir nicken uns zu, bevor wir wieder aufeinander losgehen.

»Und was ist mit alten Menschen?«, frage ich Olli später. Soll man etwa die Großmutter zum Krav Maga schleppen? Jeder Mensch könne seine Verteidigungsfähigkeit verbessern, antwortet er streng. Aber er kann auch weicher: »Mit anderen über Ängste zu reden, ist enorm wichtig. Das Allerwichtigste ist, nicht allein damit umzugehen.« Und auch Großmütter sollten die Augen offenhalten.

Sich wehren und überleben

Mir ist gerade der zweite Fingernagel abgebrochen, und ein Handknöchel hat sich seltsam verfärbt. Katinka ist kurz besorgt, ich winke ab und konzentriere mich auf das Gummimesser, das meinem Gesicht gerade viel zu nah kommt. Gemäß einer Studie hätten Menschen, die einen Messerangriff erfolgreich abgewehrt haben, im Durchschnitt 19 Verletzungen erlitten, weiß Olli zu berichten. Aber sie haben überlebt, weil sie sich gewehrt haben.

Das hat auch Krav-Maga-Erfinder Imrich »Imi« Lichtenfeld. Der Polizistensohn hatte Mitte der 30er-Jahre in Bratislava zusammen mit Freunden die Angriffe faschistischer Gangs zurückgeschlagen. Dazu entwickelten sie ein Sportgemisch, das er mit »Straßenkampf«-Wissen anreicherte. 1942 kam er ins britische Mandatsgebiet und trainierte die Hagana, nach 1948 dann die IDF.

Da verstehe ich es endlich. Krav Maga bedeutet auch »etwas tun«. Abwarten und hoffen, dass es irgendwie, irgendwann besser wird, ist keine Lösung. Ein letztes Mal Sit-ups und morgen den Muskelkater meines Lebens.

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