Porträt der Woche

Alles mit links

Valerian Ulitzky spielt Gitarre, komponiert, malt und zaubert – mit einer Hand

von Matilda Jordanova-Duda  31.07.2012 11:52 Uhr

Mit Prothese an der Gitarre: Bei einem Arbeitsunfall verlor Valerian Ulitzky (75) seinen rechten Arm. Foto: Alexander Stein

Valerian Ulitzky spielt Gitarre, komponiert, malt und zaubert – mit einer Hand

von Matilda Jordanova-Duda  31.07.2012 11:52 Uhr

Vor Kurzem habe ich meinen 75. Geburtstag gefeiert. Einige Verwandte haben in Moskau eine goldene Jubiläumsmedaille anfertigen lassen, und mir zu Ehren wurden Gedichte geschrieben.

Meine beiden Brüder und eine Schwester leben in Israel, die andere Schwester ist in Moskau geblieben. Und ich bin in Köln. So wollte es das Schicksal: Als ich meine zweite Frau kennenlernte, hatte sie schon die Ausreise nach Deutschland beantragt. Und so folgte ich ihr – was denn sonst? Meine Geschwister haben mir wegen Deutschland große Vorwürfe gemacht. Doch ich gehe hier öfter in die Synagoge als sie in Israel.

Unsere Familie ist sehr musikalisch: Alle singen und spielen ein Instrument. Das Talent haben wir von der Mutter geerbt. Ich spiele Gitarre und komponiere auch. Zu Hause habe ich drei verschiedene Gitarren, eine Harmonika und ein E-Piano. Am liebsten singe ich russische Romanzen.

unfall Als junger Mann hatte ich einen Arbeitsunfall. Von Beruf bin ich Maschinenbauingenieur, ich habe in der großen Moskauer Fabrik »Krasny Proletarij« (Roter Proletarier) gearbeitet. Mein Arm ist in die Drehmaschine geraten. Seitdem trage ich auf der rechten Seite eine Prothese. Leider bin ich kein Linkshänder und musste erst einmal lernen, alles mit links zu machen. Mittlerweile lebe ich seit dem Tod meiner Frau schon zehn Jahre allein und komme ganz gut ohne fremde Hilfe zurecht. Es hat sich herausgestellt, dass ich sogar sehr gern und gut koche.

Außerdem repariere und bastele ich jede Menge Dinge. Im Abstellraum habe ich mir eine kleine Werkstatt eingerichtet. Die technische Begabung habe ich von meinem Vater, er war ein erstklassiger Elektroingenieur und großer Tüftler. Im Jahr 1950, als mein jüngster Bruder gerade mal drei Monate alt war, wurde unser Vater verhaftet und für zehn Jahre eingesperrt. Deshalb musste ich die Schule aufgeben und ein Handwerk erlernen, um die Familie unterstützen zu können. Nach Stalins Tod kehrte Vater aus dem Lager zurück. Ihm war aber kein sehr langes Leben beschieden. Anders unsere Mutter: Sie ist 90 Jahre alt geworden und starb vor einiger Zeit in Israel.

Neben meinem Ingenieurberuf habe ich auch eine Kunstschule besucht: Ich wollte schon immer malen lernen. Mein ältester Bruder malte als Kind sehr gut. Ich habe ihm zugeschaut und traute mich nicht, es selbst zu versuchen. Ich habe gedacht: So schön kriegst du das niemals hin! Aber irgendwann hat er das Malen aufgegeben, und mich hat die Leidenschaft gepackt. Aber es war nicht einfach, die linke Hand daran zu gewöhnen.

Am liebsten male ich Porträts mit Pastellfarben. Viele hängen bei mir in der Wohnung. Da ist ein Bild meiner verstorbenen Frau, und das sind meine Stiefsöhne. Dort mein Neffe Mischa, als er mich im Urlaub besucht hat und da der Nachbar aus dem siebten Stock. Vor ein paar Monaten gab es im Gemeindezentrum Köln-Porz eine Ausstellung von Profi-Künstlern und Amateuren. Dort habe ich zehn meiner Arbeiten gezeigt.

Zeit Leider bin ich faul. Man müsste regelmäßig üben, um die Technik zu verbessern. Aber Computer und Internet, all das frisst viel Zeit. Außerdem brauche ich ein Modell. Für ein richtiges Porträt braucht man zwei bis drei Sitzungen von jeweils anderthalb Stunden.

Dieses Selbstbildnis da an der Wand ist das einzige Bild, das ich nach einem Foto gemalt habe. Da habe ich gerade eine Kamera in der Hand, das fand ich lustig als Motiv. Ich drehe gern Videos, vor allem auf Reisen. Ich besitze zwei gute Kameras und war viel damit unterwegs: in Israel, Italien und England. Aber ich nehme nicht einfach auf, sondern mache halbprofessionelle Filme daraus. Auf meinem Mischpult schneide ich die Videos und mixe Musik und Ton darunter. Ich halte so gern interessante Augenblicke fest. Wie vor ein paar Monaten im niederländischen Keukenhof: Blühende Tulpen überall, und der männliche Pfau spielte sich vor den Weibchen auf, er war so richtig in Frühlingslaune. Wunderschön!

Mein Traum ist es, einmal nach Amerika zu reisen, am liebsten mit dem Chor. Ich singe seit zwölf Jahren im Chor »Shalom« in unserer Synagoge. Wir sind nur drei Männer dort. Schon zweimal waren wir auf Tournee in Israel. Dann wollte uns jemand eine Amerika-Tournee sponsern. Aber wer weiß, ob es dazu kommt. Wir sind nicht mehr die Jüngsten, und der Chor zerfällt allmählich. Doch die Idee, nach Amerika zu reisen, arbeitet in mir.

jiddisch Meine Eltern haben uns im jüdischen Geist erzogen. Sie waren nicht sonderlich religiös, begingen aber die Feiertage, und ich halte mich daran. Hier in Köln kapiere ich auf meine alten Tage, was es mit der Tradition auf sich hat. Jiddisch kann ich verstehen, wenn auch nicht sprechen. Das war die Sprache, die meine Eltern untereinander benutzten. Jedenfalls hat es mir geholfen, mit dem Deutschen besser zurechtzukommen.

Meine Mutter konnte wegen uns Kindern ihr Studium am Konservatorium nicht beenden. Sie träumte später immer davon, dass eines Tages wenigstens einer von uns auf der Bühne stehen würde. Mich zog das Theater an. In unserem Betrieb gab es eine Laientruppe, die von einem berühmten Schauspieler geleitet wurde. Als Rothaariger war ich auf die komischen Rollen abonniert. Aber der Verlust der Hand beendete auch meine Schauspiel-Ambitionen weitgehend.

Immerhin: Meine Tante kannte einen sowjetischen Kino-Star, dem erzählte sie von mir, und er ließ mich im Mosfilm-Studio vorsprechen. Ich durfte an vielen Massenszenen teilnehmen und lernte so den ganzen Produktionshintergrund kennen. Ich habe fast alle sowjetischen Filmgrößen live gesehen.

Purimspiel Die Schauspielerei habe ich auch hier in Köln nicht ganz gelassen. So habe ich zum Beispiel das Szenario für unser Purimspiel geschrieben. Es ist eine Art Musical mit vielen Liedern. Ich spielte den persischen König Achaschwerosch. Die Premiere war 2005 auf der Bühne der Synagoge. Die Kostüme und das Bühnenbild haben wir selbst gemacht. Vergangenes Jahr haben wir es wieder aufgeführt, aber mit anderen Darstellern.

Manchmal trete ich auch mit Zauberstücken auf. Das ist selbst mit zwei Händen schwierig, aber alles eine Frage der Technik. Es gibt zwei Arten von Zauberern: die Manipulatoren und die Illusionisten. Die Ersten verlassen sich allein auf ihre Geschicklichkeit. Zu ihnen gehöre ich. So lasse ich etwa eine Münze in der Stirn verschwinden und ziehe sie aus dem Nacken wieder heraus. Die Illusionisten dagegen arbeiten mit präpariertem Werkzeug. Sie sind die, die Leute zersägen oder verschwinden lassen. Die Zauberkunst hat mich schon seit der Kindheit fasziniert. Wie jeden von uns: Im Zirkus passiert etwas Unerklärliches, ein Wunder – und das vor unseren Augen.

Hier, schauen Sie mal: Es ist sehr schwer, eine Spielkarte aufrecht zu balancieren. Und ich stelle sogar noch ein Glas darauf. Das beeindruckt, nicht wahr? Ich habe noch einen Trick: Ich nehme eine Zeitung, falte sie, gieße Wasser hinein, falte sie auseinander, und da ist kein Tropfen. Zum Schluss falte ich sie wieder und schenke daraus Cognac ein.

Zauberer dürfen ihre Geheimnisse nicht verraten. Heute findet man aber vieles im Internet. Da habe ich mir schon einige Sachen gemerkt und will sie demnächst ausprobieren. Aber um vor Publikum aufzutreten, muss man üben, üben, üben.

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