Essen

Albertos Buchstabe

Fast 300 Jahre hat die Familie Heidt in der Gegend um Essen gewohnt – lange bevor die Städte und das Ruhrgebiet zu einem Industriezentrum wurden. Die Dorfzauns mussten vor der Verfolgung durch die Nazis fliehen – nach Südamerika. Dort lebt heute noch Alberto Dorfzaun, der Urenkel des letzten Gabbais in Essen vor der Schoa. »Als ich die Einladung bekommen habe, den letzten Buchstaben der Tora zu schreiben«, erinnert sich Alberto Dorfzaun, »war es für mich eine Selbstverständlichkeit zu kommen. Ernst Heidt musste die Synagoge in Flammen zurücklassen. Jetzt kehren wir zurück, um zu feiern.«

Am vergangenen Sonntag wurde die Tora feierlich in Empfang genommen. Es war ein besonderer Tag für die vielen Gäste und die Jüdische Kultusgemeinde Essen. Als der Gemeindevorsitzende Schalwa Chemsuraschwili 2021 in der Essener Lokalausgabe der »Westdeutschen Allgemeinen Zeitung« einen Artikel darüber las, dass Alberto Dorfzaun, der Nachfahre Heidts, sich aus Südamerika via Zoom zur Verlegung eines Stolpersteins hatte zuschalten lassen, nahm er Kontakt auf. Denn »als wir zum ersten Mal seit 82 Jahren wieder in der Alten Synagoge waren, hatte ich die Idee, eine Tora schreiben zu lassen. Das hat es in Essen mindestens seit 1900 nicht mehr gegeben, wahrscheinlich aber wurde noch nie eine Tora hier geschrieben«.

Spende Gesagt, getan: Ein Gemeindemitglied sorgte mit einer Spende dafür, dass die 304.805 hebräischen Schriftzeichen in einem Jahr Handarbeit in Israel auf die Torarolle geschrieben wurden. »Schon damals«, sagt Chemsuraschwili, »habe ich mir Gedanken gemacht, wer den letzten Buchstaben schreiben soll. Ich habe mir gewünscht, dass ein Nachfahre unseres letzten Gabbais in der alten Synagoge das machen würde.«

Am 9. November 1938 war Ernst Dorfzaun, Albert Dorfzauns Sohn, von den Nazis aus seiner Wohnung gezerrt worden. Er musste alle Lichter einschalten, die Torarolle übergeben und mitansehen, wie sie mit Benzin übergossen und angezündet wurde. »Damals waren sich alle sicher, dass es kein jüdisches Leben mehr in Essen geben würde«, erzählt Alberto Dorfzaun und gibt einen kleinen Einblick in die Geschichte der Familie: »Sie mussten nach Südamerika fliehen, aber sie haben es dort geschafft. Es waren fleißige und ehrliche Leute. Sie haben ihren Weg gemacht. Sie haben ein Hotel in Kolumbien eröffnet, das für seine gute Küche bekannt war.«

»Wahrscheinlich wurde noch nie eine Tora hier geschrieben.«

Schalwa Chemsuraschwili

Deutsch hat er zu Hause gelernt: »Unsere Großeltern konnten kein Spanisch, unsere Eltern haben miteinander Deutsch gesprochen.« Als Dorfzaun den letzten Buchstaben der Tora schrieb, sah man seine Augen leuchten. Auch für ihn galt, was der Hamburger Rabbiner Shlomo Bistritzky in der Alten Synagoge sagte: »Heute feiern wir einen Sieg über die Nazis.«

Stimmen Oded Horowitz, der Vorsitzende des Landesverbandes Nordrhein, sagte: »Wir bauen jüdisches Leben wieder auf, und ich blicke voller Hoffnung in die Zukunft.« Auch Rabbiner Shmuel Aronow von der Jüdischen Kultusgemeinde Essen unterstrich die Bedeutung des Tages: »Wir haben viele Gründe zu feiern, wenn heute zum ersten Mal seit mehr als 100 Jahren eine Torarolle hier zu Ende geschrieben wird.« Peter Renzel, der Stadtdirektor, vertrat am Sonntag Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU), der zu Besuch in Essens Partnerstadt Tel Aviv war, und betonte die Verbundenheit der Stadt mit der Gemeinde.

Weiterhin eng verbunden wird auch die Familie Dorfzaun mit der Geschichte der Essener jüdischen Gemeinschaft bleiben. Einer von 304.805 Buchstaben, den Alberto Dorfzaun geschrieben hat, bleibt – auf dem Papier und in seiner Erinnerung.

Teilnehmer des Mitzvah Day 2016 in Berlin

Tikkun Olam

»Ein Licht für die Welt«

Der Mitzvah Day 2025 brachte bundesweit Gemeinden, Gruppen und Freiwillige zu mehr als 150 Projekten zusammen

 23.11.2025

München

Nicht zu überhören

Klare Botschaften und eindrucksvolle Musik: Die 39. Jüdischen Kulturtage sind eröffnet

von Esther Martel  23.11.2025

Berlin

Gegen den Strom

Wie der Ruderklub »Welle-Poseidon« in der NS-Zeit Widerstand leistete und bis heute Verbindung zu Nachfahren seiner jüdischen Mitglieder pflegt

von Alicia Rust  23.11.2025

Porträt

Glücklich über die Befreiung

Yael Front ist Dirigentin, Sängerin, Komponistin und engagierte sich für die Geiseln

von Alicia Rust  22.11.2025

Berufung

Schau mal, wer da hämmert

Sie reparieren, organisieren, helfen – und hören zu: Hausmeister von Gemeinden erzählen, warum ihre Arbeit als »gute Seelen« weit mehr ist als ein Job

von Christine Schmitt  21.11.2025

Spremberg

Gegen rechtsextreme Gesinnung - Bürgermeisterin bekommt Preis

Rechtsextreme sprechen im ostdeutschen Spremberg vor Schulen Jugendliche an. Die Schüler schütten ihrer Bürgermeisterin ihr Herz aus - und diese macht das Problem öffentlich. Für ihren Mut bekommt sie jetzt einen Preis

von Nina Schmedding  21.11.2025

Mitzvah Day

Im Handumdrehen

Schon vor dem eigentlichen Tag der guten Taten halfen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Zentralrats bei der Berliner Tafel, Lebensmittel zu prüfen

von Sören Kittel  20.11.2025

Interview

»Selbst vielen Juden ist unsere Kultur unbekannt«

Ihre Familien kommen aus Marokko, Libyen, Irak und Aserbaidschan. Was beschäftigt Misrachim in Deutschland? Ein Gespräch über vergessene Vertreibungsgeschichten, sefardische Synagogen und orientalische Gewürze

von Joshua Schultheis, Mascha Malburg  20.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025