Karneval

Alaaf op dat Lehrhaus

»Loss jonn!«: die »Seligen Kaffeewitwen« vom Kleinen Jüdischen Lehrhaus in Oberkassel Foto: cc

Es riecht nach Schminke und Kaffee. Überall liegen Kleidungsstücke herum, und im Eingangsbereich des »Kleinen Jüdischen Lehrhauses« in Bonn-Oberkassel stapeln sich Kartons, in denen massenhaft schokolierte Kaffeebohnen liegen.

Wo sonst Besucher in der ständigen Ausstellung des Lehrhauses zur Geschichte der Juden im Rheinland auch Karnevalsorden vom Bankhaus Oppenheim betrachten, herrscht am Rosenmontag 2010, nicht gerade eine museale Atmosphäre: Die Kaffeebohnen sind Kamelle, und das ist im Rheinland beinahe alles, was geworfen und gefangen werden kann – vom Bonbon über Schokolade bis hin zum Gummiball.

strumpfhose Das Jüdische Lehrhaus beteiligt sich am Rosenmontagsumzug von Oberkassel, einem Stadtteil von Bonn. Weil es kalt ist, zwängen sich die Mitglieder und Freunde des Museums in drei bis vier Lagen Pullover unter ihren Kostümen. Oder sie lassen sich dabei helfen, noch eine zweite Wollstrumpfhose über die Beine zu quetschen.

Wenn sie fertig sind, sehen sie aus wie wandelnde Kaffeewärmer. Die Stimmung ist gut, toll und jeck. Von der Straße hört man Karnevalsmusik. Eine ältere Dame wählt nachgemachte Perlenketten zum Kostüm aus. Aufgeschreckt wird sie durch ihren Mann, der sich zur Stärkung einen Pfannkuchen gönnen will. »Doch jetzt keinen Berliner! Das fehlt noch, dass du dich jetzt bekleckerst.« Der Ermahnte im schwarzen Frack greift zur Salzgurke.

zylinder Derweil beginnt Eli Harnik, den Wagen zu beladen. Er hat seine obligatorische 1.-FC-Köln-Kippa mit Geißbock gegen einen schwarzen Zylinder vertauscht. Auf dem Anhänger steht eine Modepuppe in rotem Kleid, die eine Kaffeetasse hält. Zu ihren Füßen und für die Jecken, die an den Oberkasseler Straßen stehen, nicht einsehbar, wuchtet Harnik die Kamellekartons, den privaten Tee- oder Kaffeeproviant, dazu geschmierte Brote und den Erste-Hilfe-Koffer.

Den Kindern, die hier nur rheinisch »Pänz« gerufen werden, erklärt er wieder und wieder, dass sie ihre Kamellebeutel nur dann auffüllen dürfen, wenn der Wagen steht. Damit es beim Oberkasseler Zug zu keinem Unglück kommt, müssen immer zwei Lehrhaus-Jecken neben dem Auto her gehen und auf die Kinder achten. Langsam sind die Verwandlungen abgeschlossen.

Charlotte Strochlitz beäugt noch einmal kritisch das Kostüm ihrer Tochter Rosa. Sie ist zufrieden. Alle singen, tanzen und schunkeln sich in Stimmung. Aus den Mitgliedern und Freunden des Lehrhauses sind die »Seligen Kaffeewitwen« geworden. Und von der Wand schaut Rabbiner Dr. Ludwig Philippson aus seinem Gemälde wohlwollend auf das Geschehen unter ihm.

schmölzje Als an einem heißen Sommerabend die Idee geboren wurde, sich am »Zoch« auf Bonns Sonnenseite in Oberkassel zu beteiligen, da war es naheliegend, sich bei der Kostümauswahl der Kaffeerösterei Zuntz sel. Witwe zu erinnern. Der Name Zuntz steht bei vielen älteren Bonnern für Kaffee, und die alte Frau Zuntz war eine Tante des Philosophen Moses Hess. Im Lehrhaus findet sich eine eigene Vitrine zur Geschichte der Familie und Rösterei Zuntz.

Oberkassel ist voll mit Bienchen, Räubern, Piraten, Vampiren, Kühen und allem, was die Verkleidungskiste sonst noch hergibt. Alle gehen zum Zoch. Auch die Seligen Kaffeewitwen sind unterwegs. Der von Eli Harnik gepackte Wagen steht mittlerweile am Treffpunkt, die Kamellebeutel sind prall gefüllt, die Stimmung ist großartig. »Loss jonn!« Harnik gibt das Kommando, und das »Schmölzje« (nichtrheinisch: Grüppchen) setzt sich fröhlich in Bewegung und reiht sich in den Zug ein, wobei sie singend versichern, dass sie den Dom »en Kölle losse« wollen.

Das werden sie an diesem Nachmittag immer wieder singend beschwören. Wenn sie nicht gerade der Welt mitteilen, dass sie noch, olala, »n’Pizza« wollen. Oder dass bei Palms die »Pief« (dt. Ofenrohr) verstopft ist. Das gesamte Arsenal der Karnevalslieder wird gesungen, die Stimmbänder sind bald rau. Und die Bienchen, die Räuber und die Piraten rufen nach Kamelle. Das Grüppchen vom Jüdischen Lehrhaus ist nicht »kniestig« (unrheinisch: geizig), und es wirft und wirft Kamelle in die Menge.

kamelle Irgendwann wird Proviantmeisterin Gabriele Wasser trotz Schminke ganz blass. Sie ruft entsetzt: »Nicht mit beiden Händen! Ihr dürft nicht mit beiden Händen werfen! Sonst kommen wir mit den Sachen nur bis zur nächsten Ecke.« Die Menge fordert aber weiter »Kamelle, Kamelle«, und die Kaffeewitwen werfen jetzt jeweils nur mit einer Hand.

So hält der Vorrat länger, und man wird trotzdem nicht als »Knieskopp« abgestempelt. Trotzdem schmilzt der Vorrat wie Schnee in der Sonne – sogar die kleinen Lager, die jeder Teilnehmer für Freunde und Bekannte zusätzlich eingesteckt hat. Überall stehen Bekannte, die einen mit Namen rufen, vorsichtshalber wirft man halt. Ob das wirklich alles »ehemalige Schüler« sind, die Roswitha Jaeger vom Vorstand des Lehrhauses, da »abbützt«?

Das Gedränge am Straßenrand wird stärker, denn der Zoch nähert sich einer Tribüne, vor der die einzelnen Gruppen vorgestellt werden. Jetzt wird auch das Lehrhaus-Schmölzje begrüßt. Der Redner auf dem Wagen fordert die Jecken auf, das Kleine Jüdische Lehrhaus dreimal hochleben zu lassen. Unter ohrenbetäubendem »Alaaf« auf das Lehrhaus zieht das jecke Trüppchen tanzend und Kamelle werfend weiter. Jegliches Zeitgefühl scheint verloren zu sein.

Dann ein Aufschrei. »Luur doch eens, da fährt d’ahl Frau Zuntz im Auto met«, kommentiert ein älterer Narr. Zu deutsch: Schaut doch, da sitzt die alte Frau Zuntz im Auto! Aber es ist nicht die Frau Zuntz von der Kaffeerösterei, die ihm fröhlich zulacht. Es ist Charlotte Strochlitz, die den Zoch aufgrund ihres reifen Alters fahrend zurücklegt. Für die alte Dame, die in Düsseldorf lebt, ist es die erste aktive Teilnahme an einem Karnevalszug in einem langen bewegten Leben.

Die Karawane zieht frohgelaunt weiter, das Wurfmaterial ist auf nur noch einen halben Karton geschrumpft. Aus einem Haus wird ein Teller mit Kuchen gereicht, dankbar greifen die Karnevalisten vom jüdischen Lehrhaus zu. Dann, nach fast drei Stunden, ist die Zielgerade erreicht. Singend, tanzend und die letzten Schokobohnen werfend, erreichen die Seligen Kaffeewitwen das Lehrhaus. Dann noch drei mal Alaaf: Auf das Kleine Jüdische Lehrhaus! Auf Bonn! Auf den Zoch im nächsten Jahr!

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024