Frankfurt am Main

Adieu, Marcel Reich-Ranicki

Am Sarg von Marcel Reich-Ranicki – sein Sohn Andrew Foto: dpa

»Nur wissen möchte ich: wenn wir sterben,/Wohin dann unsere Seele geht?«, zitierte Salomon Korn in seiner Trauerrede für Marcel Reich-Ranicki den Dichter Heinrich Heine. Der Literaturkritiker und Bücherfreund war am Vorabend zu Sukkot gestorben. Hunderte nahmen am vergangenen Donnerstag, am Schemini Azeret, auf dem Frankfurter Hauptfriedhof Abschied von dem Publizisten.

»Unsere Freundschaft begann im September 1986«, so der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vizepräsident des Zentralrats weiter. Sie hätten bei einem Abendessen im Hause von Ignatz und Ida Bubis um die Richtigkeit eines Heine-Zitats gewettet, Preis: ein Abendessen. Er habe die Wette verloren, gesteht Korn, doch sie wurde »unerwarteter Grundstein einer 27 Jahre währenden Freundschaft«.

Gäste
Freunde und Weggefährten wie der Literaturkritiker Hellmuth Karasek, Prominente wie Bundespräsident Joachim Gauck, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier oder TV-Entertainer Thomas Gottschalk waren gekommen. Unter den Gästen waren auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dieter Graumann, und Frankfurts Oberbürgermeister Peter Feldmann.

Die Stadt verdanke dem Verstorbenen unendlich viel, sagte Feldmann. »Mit seinem Charisma, seinem Witz und seiner schnellen Intelligenz stand er immer, wo er öffentlich auftrat, im Zentrum.« Der Literaturkritiker habe sich auch um die deutsch-israelische Versöhnung verdient gemacht, hob Feldmann hervor, etwa durch den an der Universität Tel Aviv gegründeten Marcel-Reich-Ranicki-Lehrstuhl für Deutsche Literatur.

Volker Bouffier erinnerte daran, wie sehr Reich-Ranicki das literarische Leben des 20. und 21. Jahrhunderts maßgeblich geprägt habe. Die Hessen seien stolz, dass diese große Persönlichkeit unter ihnen gelebt habe. »Er hat uns bereichert«, sagte Bouffier. Der TV-Entertainer Thomas Gottschalk nannte Reich-Ranicki einen »Helden des Vergebens, aber nicht des Vergessens«.

Fernsehpreis Ranickis 1999 erschienene Biografie Mein Leben habe ihn dazu gebracht, sich ernsthaft mit der jüngeren Geschichte auseinanderzusetzen. Mit der Fernsehunterhaltung habe sich der Verstorbene zwar etwas schwergetan, sei aber immer zu seinen Sendungen gekommen, weil er dort etwas Neues zu erfahren hoffte, spielte Gottschalk auf Reich-Ranickis Weigerung an, 2008 den deutschen Fernsehpreis entgegenzunehmen. »Ja nicht langweilen« sei sein Credo gewesen, verriet die Literaturwissenschaftlerin Rachel Salamander.

Für Salomon Korn gehörte der Verstorbene zu den Überlebenden des Holocausts, die trotz unvorstellbaren Leids und mehrfacher Traumata nicht gebrochen waren. Daran habe seine Frau Teofila, genannt Tosia, den größten Anteil, denn mit ihr habe er sich retten können. In Frankfurt hätten die beiden schließlich ein Zuhause gefunden, aber keine Heimat. Heimat seien für ihn Literatur und Musik gewesen.

Heimatlos Doch als Tosia im April 2011 starb, habe der Heimatlose auch sein Zuhause verloren, sagte Korn und erinnerte sich an seinen letzten Besuch am Bett des Schwerkranken. »Als ich mich kurz vor seinem Tod an seinem Krankenbett, in dem er unruhig atmend im Dämmerzustand lag, von ihm verabschiedete, öffnete er unverhofft noch einmal die Augen, sah mich an und – er, der nicht an Gott glaubte – hauchte hörbar ›Adieu‹. Adieu, Marcel, und danke für deine Freundschaft.«

Der Überzeugung von Marcel Reich-Ranicki entsprechend erklangen weder Choräle noch wurden Gebete gesprochen. Stattdessen wurden die Sarabande von Johann Sebastian Bach und der Schluss des dritten Bildes aus der Oper La Bohème von Giacomo Puccini gespielt.

Die Urnenbeisetzung wird im engsten Familienkreis stattfinden. In etwa vier Wochen soll es nach den Angaben der Stadt eine öffentliche Gedenkfeier in der Paulskirche geben. ja/epd

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025

Vertrag

Jüdische Gemeinde Frankfurt erhält mehr Gelder

Die Zuwendungen durch die Mainmetropole sollen bis 2031 auf 8,2 Millionen Euro steigen

von Ralf Balke  11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Hannover

Ministerium erinnert an 1938 zerstörte Synagoge

Die 1938 zerstörte Neue Synagoge war einst mit 1.100 Plätzen das Zentrum des jüdischen Lebens in Hannover. Heute befindet sich an dem Ort das niedersächsische Wissenschaftsministerium, das nun mit Stelen an die Geschichte des Ortes erinnert

 10.11.2025

Chidon Hatanach

»Wie schreibt man noch mal ›Kikayon‹?«

Keren Lisowski hat die deutsche Runde des Bibelquiz gewonnen. Jetzt träumt sie vom Finale in Israel

von Mascha Malburg  10.11.2025