Frankfurt

11.908 Namen in fünf Tagen

Erinnern zwischen Main und Altstadt Foto: Rafael Herlich

Frankfurt

11.908 Namen in fünf Tagen

»Schreiben gegen das Vergessen« erinnert an Schoa-Opfer

von Eugen El  03.09.2020 12:01 Uhr

Kurz nach zehn Uhr erscheint der erste Name auf dem Asphalt: Johanna Aaron. Eine mit Warnweste und Knieschonern ausgestattete ältere Dame schreibt ihn, kniend, mit weißer Kreide in Druckschrift auf die Fahrbahn des Frankfurter Mainkais. Die Straße ist zur Zeit versuchsweise für den Autoverkehr gesperrt.

Projekt Es ist ein Sonntagvormittag in der vorletzten Augustwoche, und das künstlerische Gedenkprojekt »Schreiben gegen das Vergessen« nimmt zwischen Main und Altstadt seinen Lauf. Bis vergangenen Donnerstagnachmittag haben Freiwillige insgesamt 11.908 Namen in alphabetischer Reihenfolge aufgeschrieben. Es sind Namen von Frankfurter Jüdinnen und Juden, die in der Schoa ermordet wurden.

Das Jüdische Museum Frankfurt habe sie zur Verfügung gestellt, sagt Margarete Rabow. Die 1955 geborene Künstlerin und Filmemacherin hat das Projekt ini­tiiert. Insgesamt hätten sich etwa 350 Teilnehmer angemeldet, berichtet Rabow. Darunter seien sechs Schulklassen. Auch Frankfurter Kommunalpolitiker wie Kulturdezernentin Ina Hartwig (SPD) sowie Bürgermeister und Kämmerer Uwe Becker (CDU) hätten sich angekündigt.

Liste Rabow ist unermüdlich unterwegs: Sie koordiniert ihre Mitarbeiter und beantwortet Fragen der Teilnehmer. »Sie sind in einer Stunde mit der Liste durch. Das schaffen Sie«, sagt sie zu einer Dame, die gerade begonnen hat zu schreiben.

Jeder Teilnehmer erhält eine Seite mit 60 Namen. Drei Kameraleute machen mit einer analogen 16mm-Filmkamera durchgehend Einzelaufnahmen von allen aufgeschriebenen Namen.

Am Ende des Projekts soll daraus ein Film von etwa zehn Minuten Länge entstehen, der 24 Bilder, also Namen, pro Sekunde zeigt. Zudem wird die fünftägige Aktion filmisch dokumentiert. Sollte es regnen, werden die Namen vom Asphalt verschwinden.

Kreide »Man muss immer ein zeitgemäßes Format finden, um Menschen zu erreichen und Gedenken weiterzutragen«, beschreibt Rabow das Ziel ihres Projekts. In ähnlicher Form hat sie es bereits in Wien umgesetzt. Im Juni 2018 schrieben dort zahlreiche Teilnehmer etwa 66.000 Namen der österreichischen Todesopfer der Schoa mit Kreide auf die Prater Hauptallee. Die nahezu endlos erscheinende Strecke von Namen abzulaufen, sei ein visuelles Erlebnis, sagt die Künstlerin. Auch in Wien ist ein analoger Film mit allen Namen entstanden. Er mache sprachlos, betont Rabow.

In Frankfurt geht das Schreiben schnell und konzentriert voran. Das in der Beschreibung noch etwas abstrakt klingende Konzept erschließt sich in der Umsetzung. Die Namen – und ihre schiere Anzahl – sprechen für sich. Allein die Einträge mit den Familiennamen Adler und Baer füllen mehrere Spalten.

Stolpersteine Jogger, Spaziergänger und Radfahrer verfolgen das Geschehen neugierig, einige bleiben stehen und fragen nach. Die Teilnehmerin Isolde Lorenz sagte der Jüdischen Allgemeinen, sie kenne Gunter Demnigs »Stolpersteine« und sehe darin eine gute Möglichkeit, innezuhalten. Margarete Rabows Gedenkprojekt sei eine Fortführung, um im Alltag sichtbar zu machen, dass es wichtig sei, nicht zu vergessen.

Nicht zu vergessen, ist auch für Lucy Bommersheim wichtig. Die 14-jährige Schülerin ist aus dem etwa 15 Kilometer entfernten Karben angereist, um Namen zu schreiben. Was viele Teilnehmer empfinden, kann Margarete Rabow gut nachvollziehen: »Nichts bleibt besser haften als Dinge, die man mit emotionaler Beteiligung tut.«

Porträt der Woche

»Musik war meine Therapie«

Hagar Sharvit konnte durch Singen ihre Schüchternheit überwinden

von Alicia Rust  15.07.2025

Berlin

Gericht vertagt Verhandlung über Lahav Shapiras Klage gegen Freie Universität

Warum die Anwältin des jüdischen Studenten die Entscheidung der Richter trotzdem als großen Erfolg wertet. Die Hintergründe

 15.07.2025 Aktualisiert

Andenken

Berliner SPD: Straße oder Platz nach Margot Friedländer benennen

Margot Friedländer gehörte zu den bekanntesten Zeitzeugen der Verbrechen der Nationalsozialisten. Für ihr unermüdliches Wirken will die Berliner SPD die im Mai gestorbene Holocaust-Überlebende nun sichtbar ehren

 15.07.2025

Bonn

Schoa-Überlebende und Cellistin Anita Lasker-Wallfisch wird 100

Sie war die »Cellistin von Auschwitz« - und später eine engagierte Zeitzeugin, die etwa vor Schülern über ihre Erlebnisse unter dem NS-Regime sprach. Jetzt feiert sie einen besonderen Geburtstag

von Leticia Witte  15.07.2025

Würdigung

Er legte den Grundstein

Vor 100 Jahren wurde Simon Snopkowski geboren. Zeitlebens engagierte sich der der Schoa-Überlebende für einen Neubeginn jüdischen Lebens in Bayern

von Ellen Presser  14.07.2025

München

Im Herzen ist sie immer ein »Münchner Kindl« geblieben

Seit 40 Jahren ist Charlotte Knobloch Präsidentin der IKG München. Sie hat eine Ära geprägt und das Judentum wieder in die Mitte der Gesellschaft gerückt

von Christiane Ried  14.07.2025

Jubiläum

Münchner Kultusgemeinde feiert Wiedergründung vor 80 Jahren

Zum Festakt werden prominente Gäste aus Politik und Gesellschaft erwartet

 14.07.2025

Berliner Ensemble

Hommage an Margot Friedländer

Mit einem besonderen Abend erinnerte das Berliner Ensemble an die Zeitzeugin und Holocaust-Überlebende. Pianist Igor Levit trat mit hochkarätigen Gästen auf

 14.07.2025

Reisen

Die schönste Zeit

Rom, Balkonien, Tel Aviv: Hier erzählen Gemeindemitglieder, an welche Urlaube sie sich besonders gern erinnern

von Christine Schmitt, Katrin Richter  13.07.2025