Tradition

Zeit zum Kerzenzünden

Wenn die ersten kleinen Sterne zu sehen sind, beginnt die Nacht – und damit ein neuer jüdischer Kalendertag. Foto: imago

Tradition

Zeit zum Kerzenzünden

Wann genau beginnt der Schabbat? In den Gemeinden gibt es unterschiedliche Regelungen

von Rabbiner Elischa Portnoy  12.09.2016 19:26 Uhr

Der Schabbat und die jüdischen Feiertage sind Inseln in der tagtäglichen Routine, die uns für 25 Stunden Erholung und Freude bescheren. Doch wann genau beginnt diese schöne Zeit? Viele wissen bereits, dass der jüdische Tag noch am Vorabend beginnt. Das wird direkt aus der Tora abgeleitet: »Und es ward Abend, und es ward Morgen: der erste Tag« steht bei der Erzählung über die Schöpfung im 1. Buch Mose.

Jedoch ist der Begriff »Abend« sehr allgemein. Gibt es einen genauen Zeitpunkt, wann man mit der Arbeit fertig sein muss und sich in festlicher Kleidung in der Synagoge wiederfindet? Wenn man eine jüdische Zeitung liest, die die Gebetszeiten für mehrere jüdische Gemeinden druckt, stellt man verwundert fest, dass in verschiedenen Gemeinden Schabbat zu ganz verschiedener Zeit anfangen kann. Dabei können die Unterschiede mehrere Stunden betragen, unabhängig, ob Hochsommer oder tiefer Winter ist. Wie kann das sein? Wer entscheidet das? Welche Faktoren spielen dabei eine Rolle?

Die Antworten auf diese Fragen werden wohl manchen überraschen. Laut unseren Weisen beginnt ein Abend, wenn es dunkel ist und die Sterne am Himmel zu sehen sind. Ein aufmerksamer Leser würde sofort fragen: Um welche Sterne handelt es sich? Es gibt ja verschiedene Sterne: große, die schon ziemlich früh zu sehen sind, beziehungsweise kleine, auf die man lange warten muss.

sterne Diese Frage ist auch unseren Weisen nicht entgangen. Sie haben drei Gruppen von Sternen definiert: die kleinen, die mittleren und die großen. Da wir uns sicher sein möchten, dass tatsächlich schon die »Nacht-Zeit« angefangen hat, warten wir auf die kleinen Sterne. Spätestens dann ist die Nacht da, und ein neuer jüdischer Kalendertag hat begonnen.

Jedoch wird es ein wenig komplizierter, wenn es um den Beginn des Schabbats geht. Da es am Schabbat verboten ist zu arbeiten, richten wir uns nicht nach dem letztmöglichen Anfang der Nacht, sondern nach dem frühesten Zeitpunkt des Abend-Anfangs. Sonst riskieren wir, dann zu arbeiten, wenn für G’tt schon der Ruhetag begonnen hat.

Und hier kommen wir auf den Begriff »Ben haSchmoschot« zu sprechen – eine Zeit zwischen dem Sonnenuntergang und Sternenaufgang. Diese Zeit ist im jüdischen Gesetz, der Halacha, buchstäblich eine Grauzone. Es bestehen bis heute ungeklärte Zweifel, ob diese Zeit noch zum Tag gehört oder schon zur Nacht.

»Tosefet Schabbat« Logischerweise sollte wohl der Sonnenuntergang der späteste Zeitpunkt für den Schabbatbeginn sein. Jedoch muss der Schabbat noch früher begonnen werden, und zwar wegen »Tosefet Schabbat« – Zufügen zum Schabbat. Unsere Weisen leiteten aus der Tora ab, dass man zur Schabbatzeit ein wenig vom Werktag hinzufügen soll.

Da für »Tosefet Schabbat« fünf bis zehn Minuten genügen, wurde es Brauch, die Schabbatkerzen zwischen zwölf und 15 Minuten vor Sonnenuntergang anzuzünden. Stellen wir also fest: Spätestens fünf Minuten vor Sonnenuntergang soll der Schabbat beginnen. Doch geht es eventuell auch früher? Was, wenn man für »Tosefet Schabbat« nicht zehn Minuten, sondern zehn Stunden hinzufügen will? Darf man schon am Freitagmorgen in den Schabbat starten?

Nein, sagen unsere Weisen, so früh geht es nicht. Frühestens darf man den Ruhetag ab »Plag Ha-Mincha« beginnen, etwa eine Stunde und 15 Minuten vor Sonnenuntergang. Auch wenn es in dieser Zeit noch hell ist und sogar oft die Sonne scheint, legt der wichtigste Gesetzeskodex Schulchan Aruch fest, dass man ab dieser Zeit Kerzen zünden und Schabbat auf sich nehmen darf. Der Grund dafür ist, dass man laut Talmud ab dieser Zeit schon das Abendgebet Maariv beten darf.

Jedoch ist auch dieser Zeitpunkt in Deutschland im Sommer ziemlich spät (19.40 bis 20 Uhr). Darf man trotzdem früher anfangen? Jetzt wird es interessant. Laut Schulchan Aruch ist es nicht erlaubt. Jedoch schreibt ein großer Rabbiner des Mittelalters, »Trumat haDeschen« (Rav Israel Isserlein, 1390–1460) in seinen Responsen, dass die Juden in einer deutschen Stadt freitags den Schabbat so früh angefangen haben, dass sie nach allen Gebeten und nach der Schabbatmahlzeit zu Hause spazieren gingen, wenn es draußen noch hell war!

optionen Das könnte die Quelle für die orthodoxen Rabbiner sein, die in ihren Gemeinden einen früheren Schabbatanfang erlauben. Da wir jetzt wissen, dass mehrere Optionen für die Gebetszeiten vorhanden sind, können wir nun betrachten, wie es in verschiedenen jüdischen Gemeinden gehandhabt wird.

Ein wichtiger Faktor, der dabei berücksichtigt werden muss, ist die Zielgruppe: die Synagogenbesucher. Wenn es überwiegend ältere Menschen sind, wäre ein früherer Anfang sehr hilfreich. Wenn der Schabbat jedoch für die Jugend der Gemeinde veranstaltet wird, ist auch ein ziemlich später Kabbalat Schabbat kein Problem – und für »Young Professionals« sogar wünschenswert. Wenn es aber vor allem junge Familien mit Kleinkindern sind, dann muss die richtige Balance gefunden werden: Einerseits soll es nicht zu früh sein, um umfangreiche Vorbereitung zu ermöglichen. Andererseits soll es nicht zu spät werden, damit auch die Kinder mitfeiern können, ohne in der Synagoge einzuschlafen.

Deshalb wird diese Frage unterschiedlich entschieden: Manche Gemeinden (vor allem orthodoxe) gehen einfach nach dem Kalender. Wenn es im Sommer sehr spät wird, ist allerdings nichts zu machen – Kabbalat Schabbat muss spät angesetzt werden. Und wenn es im Winter sehr früh ist, dann muss man mit einem halben Arbeitstag klarkommen und kurz nach 15 Uhr schon in der Synagoge eintreffen.

Deadline Andere Gemeinden legen im Sommer eine Deadline fest und lassen den Schabbat den ganzen Sommer über früher beginnen. Allerdings muss sich der Rabbiner dann Gedanken darüber machen, wie er die Frage in Einklang mit der Halacha bringt. In einigen Gemeinden gibt es das ganze Jahr hindurch nur eine bestimmte Zeit für Kabbalat Schabbat (meistens 17 bis 19 Uhr). Das ist natürlich vorteilhaft, wenn man nicht jede Woche die zeitabhängigen Gebetszeiten bekannt geben muss. Jedoch sollen die Kerzen im Winter noch zu Hause gezündet werden – in der Synagoge ist das nicht mehr möglich.

Idealerweise soll ein Rabbiner, der sowohl halachische als auch soziale Faktoren kennt und sie abwägen kann, über die Gebetszeiten entscheiden. Wenn kein Rabbiner vorhanden ist, entscheiden die Gabbaim beziehungsweise der Vorstand.

Interessanterweise stellen nicht nur die »problematischen« Schabbatzeiten für das religiöse jüdische Leben in Deutschland ein Problem dar. Auch die Feiertage können zu einer echten Herausforderung werden.

Die größte davon ist in Deutschland zweifellos Pessach. Bekanntlich ist ein Sederabend sehr lang: Die Haggada muss gelesen werden, es müssen vier Becher Wein getrunken werden, die Kinder sollen ihre Fragen stellen, und auch für die köstliche Mahlzeit soll ausreichend Zeit gelassen werden. Zusammen mit dem Abendgebet nimmt das mindestens anderthalb bis zwei Stunden in Anspruch.

Zeitumstellung Das Problem ist dabei, dass die halachisch richtige Zeit für den Sederanfang in Deutschland sehr spät fällt. Im April, wenn Pessach gefeiert wird, sind die Uhren schon auf Sommerzeit umgestellt, und wenn die passende Zeit für den Kiddusch kommt, müssen viele Gemeindemitglieder bereits nach Hause gehen. Auch hier stehen die Rabbiner vor komplizierten Fragen.

Einige Kopfschmerzen bereitet Rabbinern auch das Schawuotfest. Idealerweise soll der Abend von Schawuot mit dem Sternenaufgang beginnen. Jedoch ist dieser Anfang Juni, wenn normalerweise Schawuot gefeiert wird, so spät, dass die meisten Menschen zu diesem Zeitpunkt schon schlafen. Das gleiche Problem gibt es mit dem zweiten Schawuotabend: Man muss auf das Ende des ersten Feiertags warten. und das ist auch sehr spät in der Nacht.

Das Rosch Haschana-Fest hat ebenfalls seine Besonderheit. Idealerweise soll das neue Jahr nicht zu früh angefangen werden. Der Grund dafür ist, dass Rosch Haschana als »Tag des Gerichts« gilt. An diesem Tag werden alle Menschen von G’tt gerichtet, und ihre Schicksale werden für das ganze Jahr bestimmt.

Deshalb ist es nicht sehr klug, den »Gerichtsprozess« früher anzufangen, als unbedingt nötig ist. Jedoch ist dieser Faktor nicht so bedeutend, und wenn es nötig ist, darf man ruhig das Fest schon mit »Plag Ha-Mincha« beginnen.

sukkot An Sukkot gibt es ein anderes Problem: Da das Fest im Oktober gefeiert wird, ist es nachts draußen schon ziemlich kalt. Und da gerade an Sukkot in den Laubhütten gegessen werden soll, wäre es natürlich hilfreich, wenn die Seuda, das festliche Mahl in der Laubhütte, nicht allzu spät stattfinden würde. Dies ist jedoch nur am Schabbat Chol HaMoed (Halbfeiertag) möglich. An Sukkot soll Kiddusch idealerweise nach Sternenaufgang gemacht werden. Da hilft wohl nur eine gute Heizung in der Sukka oder warme Winterkleidung.

Wie wir sehen, kann jede Gemeinde ihre Festlegung der Gebetszeiten gut begründen. Sowohl halachische Faktoren als auch soziale Gründe oder einfach nur lokale Bräuche (Minhagim) können eine Rolle spielen.

Wenn die Gemeindemitglieder diese Hintergründe kennen und nachvollziehen können, wird es ihnen auch leichter fallen, die Gebetszeiten zu akzeptieren, selbst wenn sie ihnen vielleicht manchmal nicht ganz passend erscheinen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau.

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