Parascha Nasso

Wunder als Wegbegleiter

Teil des transportablen Heiligtums: Nachbau der Bundeslade Foto: Getty Images

Während der biblischen Wüstenwanderung des Volkes Israel war der Mischkan das zentrale Heiligtum des Judentums. Das transportable Stiftszelt war der Vorläufer des späteren Tempels in Jerusalem.

In unserem Wochenabschnitt berichtet die Tora von der Einweihung des Mischkans: »Und als Mosche den Mischkan aufgerichtet und gesalbt und geheiligt hatte mit all seinem Gerät, dazu auch den Altar mit all seinem Gerät gesalbt und geheiligt hatte, da opferten die Fürsten Israels, die Häupter waren in ihren Sippen« (4. Buch Mose 7, 1–2).

MISCHKAN Der Mischkan und der Tempel in Jerusalem werden in den klassischen rabbinischen Schriften immer auch als Orte des Wunders dargestellt. So lesen wir zum Beispiel in der Mischna, in Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter, dass der Tempelberg ein Ort der Wunder war.

»Zehn Wunder geschahen an unseren Vätern im Tempel: … Zusammengedrängt stand das Volk im Tempel zum G’ttesdienst und hatte doch Raum, sich niederzuwerfen. Nie hat eine Schlange oder ein Skorpion einem Menschen in Jerusalem Leid angetan, und nie hat einer zum anderen gesagt: Es ist mir zu eng in Jerusalem, dass ich da übernachte« (5,7).

Die Bundeslade und die Steintafeln werden mit wundersamen Geschehnissen assoziiert.

Im Zentrum des Mischkans und später im Allerheiligsten des Tempels stand die Bundeslade. Darin lagen die Steintafeln mit den Zehn Geboten. Auch die Bundeslade und die Steintafeln werden mit wundersamen Geschehnissen assoziiert. So heißt es, die Lade sei zu schwer gewesen, um getragen zu werden. Die Kommentatoren erklären, dass sie die Träger trug. Wer das Glück hatte, die Lade zu tragen, bekam übermenschliche Kraft.

Der Midrasch berichtet, dass die Bundeslade im Allerheiligsten keinen Platz einnahm – ihr Vorhandensein verformte den Raum. Und der Talmud (Megilla 3a) berichtet, dass die Schrift der Zehn Gebote wundersam in die Steintafeln eingraviert war.

NATURGESETZE Es steht außer Frage, dass der Mischkan und später auch der Tempel Orte des Wunders waren. Doch was ist ein Wunder?
Wir unterscheiden zwischen offenen und verborgenen Wundern.

Ein offenes Wunder ist das zeitweise Aufheben der Naturgesetze. Während eines Wunders können Zeit und Raum nach neuen Regeln spielen.
Ein verstecktes Wunder ist eine Aneinanderreihung von Zufällen. Es geschehen mehrere unwahrscheinliche, aber im Rahmen der Naturgesetze dennoch mögliche Dinge.

Es ist kein Zufall, dass gerade Mischkan und Tempel die Orte des Wunders sind.

Wieso ist gerade der Tempel ein Ort der Wunder? Er ist ein Symbol für die Begegnung von Mensch und G’tt. Die talmudischen Weisen nennen ihn den »Ort, an dem Himmel und Erde einander küssen«. Der Tempelberg ist laut der jüdischen Tradition der Ort, an dem die Schöpfung des Menschen begonnen hat. Das erste Wort der Tora, »Bereschit« – im Anfang, besteht aus denselben Buchstaben wie »Rosch Bajit« – das Haupt oder der Beginn des Hauses.

Einige Kommentatoren sehen darin ei­ne Anspielung auf den Tempel (Beit Hamikdasch), der Anfangspunkt der Schöpfung ist und zugleich Symbol für den Grund der Schöpfung – der Ort, an dem der Mensch auf das absolute Ideal trifft und sich gedanklich dem Übernatürlichen widmet.

G’TTESBEWUSSTSEIN Mit G’ttesbewusst­sein zu leben, kann den Menschen verändern. Wir alle leben in den Geschichten, an die wir glauben.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari beschreibt in seinen Büchern eindrucksvoll, wie unser Finanzsystem auf dem Glauben an die Kaufkraft von gedrucktem Papier basiert. Jeder lebt mit Geschichten, mit Glaubenssätzen und Überzeugungen, die den Alltag steuern. Ich denke, dass der Glaube an G’tt mit Freiheit verbunden ist. Mit der Freiheit, außerhalb limitierender Gedankengänge zu leben.

Der Glaube an G’tt bedeutet, dass nichts unmöglich ist und eine liebevolle Kraft die gesamte Welt lenkt. Diese Kraft handelt auf verborgenen Wegen, mit perfektem Timing. Diese Kraft kann den Bettler zum Millionär und den Millionär zum Bettler machen.

Wir tragen eine Brille und sehen durch sie die Realität.

Im Judentum umfasst dieser Glaube auch den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele. Es bedeutet, gemeinsam mit allen anderen Menschen im Ebenbild G’ttes erschaffen zu sein. Es ist der Glaube daran, dass die guten Dinge, die für mich vorbestimmt sind, eines Tages auch mich erreichen werden. Es gibt daher keinen Grund zur Trauer um vermeintlich verpasste Chancen.

Gleichzeitig bedeutet es, die moralische Verpflichtung zu tragen, geistig zu wachsen, andere im Ebenbild Erschaffene zu unterstützen und jede Möglichkeit zu nutzen, das eigene Potenzial, den inneren g’ttlichen Funken, voll zum Ausdruck zu bringen.

Es bedeutet auch, dass man vom Geben nicht arm wird, dass wir spirituelle Wesen sind und dieses irdische Leben nur ein Abschnitt unserer Existenz ist. All das sind Glaubenssätze, die nicht überprüfbar, nicht beweisbar sind. Wir tragen eine Brille und sehen durch sie die Realität. Wir haben die freie Wahl, eine andere Brille auszuprobieren.

TRADITION Die jüdische Tradition lehrt uns, dass die Welt, die durch die Brille des Glaubens gesehen wird, den Gläubigen nicht enttäuschen wird.
Der Psalmist beschreibt es mit den Worten: »Ich war jung, und bin auch alt geworden, noch nie sah ich den Gerechten verlassen, noch seinen Samen nach Brot gehen« (37,25).

Und im ersten Psalm heißt es: »Glücklich ist, wer nicht dem Rat der Bösewichte folgt, wer nicht mit Sündern auf einer Seite steht, wer nicht in der Gesellschaft der Spottenden sitzt, sondern die Lehre G’ttes begehrt« (1, 1–2).

Und dann heißt es: »Er ist wie ein Baum, der nahe am Wasser gepflanzt ist, der Frucht trägt Jahr für Jahr und dessen Blätter nie verwelken. Was er sich vornimmt, das gelingt« (1,3).

Ich denke, es ist kein Zufall, dass gerade Mischkan und Tempel die Orte des Wunders sind. Es kann in ihnen eine Botschaft gesehen werden: Wer den Weg zum Ideal geht, zur eigenen Begegnung mit G’tt, der wird fühlen können, wie sich das Leben zu seinen Gunsten formt, wie das Wundersame zum Wegbegleiter wird.

Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.


INHALT
Der Wochenabschnitt Nasso setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftszelts fort. Es folgen verschiedene Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeitsgelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024