Zeitreisen

Vorwärts in die Vergangenheit

Was Entscheidungen in der Zukunft nachträglich alles ändern

von Vyacheslav Dobrovych  04.01.2024 11:05 Uhr

Der »Terminator« kommt aus der Zukunft, um die Gegenwart zu ändern. Auch der Talmud stellt die Frage nach der theoretischen Zeitreise. Foto: picture alliance / Mary Evans/AF Archive/Orion Pict

Was Entscheidungen in der Zukunft nachträglich alles ändern

von Vyacheslav Dobrovych  04.01.2024 11:05 Uhr

Im Psalm 76 Vers 9 heißt es: »Wenn du das Urteil vom Himmel hören lässt, so fürchtet die Erde und ist ruhig.« Der Talmud fragt im Traktat Avoda Zara (3a), wie dieser Vers wohl zu verstehen ist. Denn die Tora wird als das Urteil G’ttes verstanden. Wenn also Gʼtt die Tora offenbart, so fürchtet sich die Erde, ist aber gleichzeitig ruhig. »Wie ist dies zu verstehen?«, will der Talmud wissen – schließlich sind Furcht und Ruhe zwei recht gegensätzliche Begriffe. Die Weisen haben dafür eine sehr tiefgründige Erklärung.

Sie betonen, dass die Welt womöglich zerstört worden wäre, hätte das Volk Israel im Jahr 2448 nach ihrer Erschaffung die Tora nicht angenommen. Aus diesem Grund musste sich die Erde fürchten. Weil das jüdische Volk die Tora aber angenommen hatte, blieb sie unzerstört und konnte daher ruhig sein.

Darüber hinaus betonen die Kommentatoren, dass in dieser Passage nicht behauptet werde, die Welt wäre anderenfalls im Jahr 2448 mit einem großen Knall verschwunden. Vielmehr hätte es sie rückwirkend einfach nicht gegeben.

Wenn die Israeliten die Tora damals nicht angenommen hätten, so wären alle Menschen, die bis zu diesem Moment gelebt hatten, nie existent gewesen. Die gesamte Realität wäre auf eine Zeitreise zu dem Moment der Schöpfung gegangen, und alles, was in dieser Zeit geschehen war, wäre gelöscht worden.

Hätte das Volk Israel die Tora nicht angenommen, hätte es die Welt rückwirkend nicht gegeben.

Die Erde sollte ambivalent sein. Einerseits fürchtete sie sich, dass die Juden die Tora nicht annehmen könnten und ihre Existenz daher bedroht sei. Andererseits war sie ruhig, da die Juden die Tora annehmen werden und sie daher in ihrer Existenz nicht gefährdet war. Was wir hier sehen, ist ein spannendes Konzept: Eine zukünftige Handlung hat massiven Einfluss auf den Zustand der Vergangenheit.

In der Halacha finden wir ein ähnliches Konzept. Wenn ein Mann in den Krieg zieht und nicht zurückkehrt, wir aber nicht wissen, ob dieser Mann nun gestorben ist oder nicht, so gilt seine Frau als Aguna. Sie darf nicht erneut heiraten, da sie noch immer mit ihrem ersten Mann verheiratet ist – schließlich wurde die Ehe weder geschieden noch der Mann definitiv für tot erklärt.

Dies brachte bei jedem Krieg große Probleme mit sich. Viele Männer, die entführt wurden oder im Kampf ums Leben kamen, ohne dass ihre sterblichen Überreste gefunden wurden, hinterließen so Frauen, die aufgrund der bestehenden Unsicherheiten an ihren Mann gebunden blieben und daher keine neue Familie gründen konnten.

Aus diesem Grund wurde in Israel ein besonderes Konzept der Ehescheidung eingeführt, das mit an Bedingungen geknüpft war. So sagte der Mann seiner Frau, bevor er in den Kampf zog: »Wir sind ab diesem Moment geschieden, unter der Bedingung, dass ich in den nächsten zwölf Monaten nicht zurückkehre« (Gittin 76b).

Falls der Mann beispielsweise nach elf Monaten heimkehrte, so war das Paar nie geschieden. Sollte der Mann aber nach einem ganzen Jahr nicht wieder auftauchen, so waren sie bereits die ganze Zeit über geschieden.

Solange der Mann lebt, aber noch nicht zurückgekehrt war, ist das Paar zwölf Monate lang sowohl geschieden als auch getrennt. Ein zukünftiges Ereignis ist also ausschlaggebend für den Status der Beziehung in den zwölf Monaten zuvor. Auf diese Weise gibt es zugleich Auskunft und Klarheit über die halachische Realität in der Vergangenheit.

In der realen Welt können Objekte sich jedoch nicht an zwei Orten gleichzeitig befinden. Der Eiffelturm steht entweder in Paris oder in New York. Es ist unmöglich, dass dasselbe Monument sich zur selben Zeit an zwei Orten befindet.

Eine Entscheidung in der Gegenwart gibt auch Auskunft über die Vergangenheit.

Im Mikrokosmos dagegen verhält sich das alles etwas anders. Wir wissen, dass sich ein Elektron in einem Wasserstoffatom an mehreren Orten zugleich befinden kann. Beobachtet man dieses allerdings mit einem Messgerät, so nimmt es stets eine definitive Position ein.

Ähnlich wie eine solche Beobachtung mit einem Messgerät im Mikrokosmos verhält es sich in dem Moment der Entscheidung im Kosmos der Tora, wobei dieser Aufschluss über eine definitive Position in der Vergangenheit gibt. Dieser Moment der Entscheidung für die Tora hat die gesamte Realität der Vergangenheit verfestigt, und zwar so, wie der Zeitpunkt der Rückkehr – oder des Fernbleibens – des Ehepartners einen Rückschluss über den Status der Ehe der gesamten zwölf Monate in der Vergangenheit vermittelt.

Dieser Gedanke ist nicht bloß spannend, sondern beinhaltet auch eine wichtige Regel für unser Leben, und zwar, dass ein Moment der Entscheidung in der Gegenwart auch Auskunft über die Vergangenheit gibt. In der Tora lesen wir beispielsweise von Jehuda, einem der Anführer des Volkes Israel. Er ist ein Gelehrter und eine Autoritätsperson – aber er begeht mit Tamar, der Witwe zweier seiner Söhne, eine Sünde. Weil er sie für eine Prostituierte hält, haben beide Sex miteinander, und sie wird dabei schwanger.

Tamar verrät diesen Fehltritt von Jehuda selbst dann nicht, als sie wegen ihres außerehelichen Geschlechtsverkehrs mit dem Tod bedroht wird. Jehuda gibt schließlich seine Schuld zu und bekennt sich öffentlich zu seinem ungeplanten Nachwuchs. Er rettet Tamar das Leben, indem er die Verantwortung übernimmt und sein Verhalten bereut.

Aus dieser einmaligen sexuellen Beziehung entstehen Zwillinge: zwar Peretz und Serach. Über Ersteren heißt es in den letzten Versen des Buches Ruth (4, 18–21): »Peretz zeugte Hezron, Hezron zeugte Ram, Ram zeugte Amminadav, Amminadav zeugte Nachschon, Nachschon zeugte Salmon, Salmon zeugte Boas, Boas zeugte Obed, Obed zeugte Ischai, und Ischai zeugte David.«

Aus der flüchtigen Begegnung zwischen Jehuda und Tamar entsteht also ein direkter Vorfahre Davids, der bekannterweise ein direkter Vorfahre des künftigen Maschiach ist.

Vor der Ankunft des Maschiach Ben David soll der Maschiach Ben Josef als Wegbereiter kommen.

In dem Moment, als Jehuda von Tamar nicht verraten wurde, stand er vor einer Entscheidung. Die Entscheidung, entweder die Wahrheit zu sagen und dadurch sein Gesicht zu verlieren, um Tamars Leben zu retten, oder seinen guten Ruf zu wahren und Tamar sowie ihre ungeborenen Kinder in den Tod zu schicken.

Er entschied sich für das Richtige, und so wurde der eigentlich verbotene One-Night-Stand rückwirkend zu einem wichtigen Schritt in Richtung Maschiach und damit der Erlösung der Menschheit – ganz zu schweigen davon, dass sich das Meer nach dem Auszug aus Ägypten nur dank Nachschon, dem Sohn von Aminadav und damit ebenfalls ein Baustein in der Genealogie von Peretz zu David, teilte. Im vollen Glauben, dass Gʼtt die Juden retten wird, lief dieser wie ein Löwe ins Meer und spaltete es.

Interessanterweise finden wir in der Tora nur ein Kapitel später die Geschichte von Josef. Auch er wird auf dem Gebiet der Sexualität getestet. So versucht die Frau seines Meisters Potifar, ihn zum Geschlechtsverkehr zu überreden. Josef aber antwortet ihr: »Du bist seine (Potifars) Frau. Wie könnte ich ein so großes Unrecht begehen und gegen Gʼtt sündigen?« (1. Mose 39,9). Anders als sein Bruder Jehuda in Israel hat Josef in Ägypten nichts zu bereuen. Er sündigt nämlich nicht.

Unsere Weisen lehren, dass es vor der Ankunft des Maschiach, der auch Maschiach ben David genannt wird, den Maschiach ben Josef geben wird. Letzterer ist ein Nachkomme Josefs, der den Weg für den wahren Maschiach, der wiederum ein Nachkomme Davids – und damit auch Jehudas – sein wird, bereiten wird.

Sowohl Josef als auch Jehuda werden so zu Vorfahren messianischer Persönlichkeiten. Der Maschiach, der von Jehuda abstammt, ist allerdings der bedeutsamere von beiden. Der von Josef gilt aber auch als ein Wegbereiter.

Als Jehuda und auch sein Nachfahre David – wie es in der Geschichte mit Bat Scheva deutlich wird – sündigen, zeigen beide danach echte Reue und wiederholen ihre Taten nicht. Auf diese Weise macht ihre Entscheidung die Sünde der Vergangenheit zu einer Lehre für künftige Generationen, zu einem Weg der Erlösung und damit auch zu einem Schritt in Richtung einer tieferen Beziehung mit Gʼtt.

Aber es gibt eine weitere Ebene: Durch diese Reflexion ihrer Sünden und die dadurch ausgelöste Transformation der Vergangenheit in etwas Positives wird aus der Genealogie Jehudas eine sogar noch erhabenere als die von Josef.

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