Talmudisches

Von jüdischen Ärzten

Jüdische Ärzte sind nicht qualifizierter als nichtjüdische, doch laut dem Talmud befolgen sie die Halacha.

Talmudisches

Von jüdischen Ärzten

Was Rabbi Jochanan über Mediziner, das Leben und den Tod meinte

von Stephan Probst  17.01.2020 10:23 Uhr

Der Talmud überliefert die eigentümliche Diskussion über Rabbi Jochanans Meinung, wonach man »einen Kranken ausschließlich von jüdischen Ärzten behandeln lassen darf, solange unklar ist, ob er überleben oder sterben wird. Wenn sicher ist, dass er sterben muss, darf man ihn auch von nichtjüdischen Ärzten behandeln lassen« (Awoda Sara 27b).

Die Begründung hierfür ist nicht, dass jüdische Ärzte qualifizierter seien als nichtjüdische, sondern dass jüdische Ärzte die Halacha befolgen. Sie wissen, das Leben stellt im Judentum einen geradezu absoluten Wert dar, und sie als Ärzte müssen alles tun, um das Leben zu erhalten.

verbote Die Halacha relativiert sich schließlich selbst zugunsten des Lebens, und alle Verbote (außer den Verboten von Mord, Götzendienst und Suizid) dürfen oder müssen übertreten werden, wenn ihre starre Befolgung das Leben gefährdet.

Auch ein Leben von kurzer Dauer und mit Einschränkungen gilt Juden als heiliges Geschenk des Schöpfers. Daher wird in der zitierten talmudischen Diskussion folgerichtig eingewandt: »Selbst wenn er sicher sterben muss, wird er doch noch eine beschränkte Zeit leben!?«

Die überraschende Antwort auf die Zweifel lautet: »Das Leben einer beschränkten Zeit (Chaje Scha’a) wird hier nicht berücksichtigt.«

Steht also medizinisch zweifelsfrei fest, dass ein Kranker sterben muss und es keine Rettung gibt, darf er auch von einem Arzt behandelt werden, der das Leben nicht als Geschenk des Schöpfers versteht.

Lebenszeit Der nichtjüdische Arzt wird nicht versuchen, um jeden Preis Leben retten zu wollen. Für ihn mag die Lebensqualität seiner Patienten wichtiger sein als ihre bloße Lebenszeit. Er könnte sich sogar ganz bewusst gegen lebensverlängernde Maßnahmen entscheiden und unter Umständen den Eintritt des Todes absichtlich beschleunigen.

Auch ein Leben von kurzer Dauer und mit Einschränkungen gilt Juden als heiliges Geschenk des Schöpfers.

Die Ergebnisse einer Umfrage unter Ärzten in Deutschland, die 2015 in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift veröffentlicht wurden, bestätigen, dass genau dies im medizinischen Alltag vorkommt. Von 700 befragten Ärzten gab die Hälfte an, beim letzten von ihnen begleiteten Sterbefall bewusst bestimmte medizinische Maßnahmen abgebrochen oder gar nicht erst begonnen zu haben, damit Kranke schneller den erlösenden Tod finden können.

Schmerzlinderung Zehn Prozent gaben sogar an, Medikamente zur Schmerzlinderung absichtlich so hoch dosiert zu haben, dass es den Sterbeprozess beschleunigt. Juristisch und halachisch ist dies problematisch, handelt es sich doch um eine versteckte Form von Sterbehilfe, also um eine Tötung. Aber handeln Ärzte – ganz egal, ob jüdische oder nichtjüdische – falsch, wenn sie sich in derartigen Fällen mehr an der Lebensqualität der Kranken als an der Pflicht, Leben zu retten, orientieren?

Wenn die Medizin einem unheilbar Kranken nur noch kurze Lebensverlängerung (Chaje Scha’a) ermöglichen kann und er sich den erlösenden Tod wünscht, muss er mit großer Verzweiflung bei seiner Familie rechnen und darauf gefasst sein, von allen Seiten zur religiösen Verpflichtung zu leben ermahnt zu werden.

Man soll sich auf den Kranken einlassen und zu seinem Wohl entscheiden.

Der Begriff des »Lebens einer beschränkten Zeit« (Chaje Scha’a) hilft in der halachischen Bewertung eines solchen Falles. Die Tosafisten schlussfolgern, dass man die scheinbar widersprüchlichen Anweisungen zur Behandlung einer unumkehrbar und in kurzer Zeit tödlich endenden Erkrankung so verstehen soll, dass die Halacha mit einer barmherzigen Flexibilität ausgelegt werden darf.

Das heißt, man soll sich auf den Kranken einlassen und zu seinem Wohl entscheiden. Im Einzelfall wird man akzeptieren müssen, dass sein Wohl eben nicht das Weiterleben, sondern der Tod sein mag.

Ein unheilbar Kranker darf einen aussichtlosen Kampf beenden und medizinische Maßnahmen, vielleicht sogar das Essen und Trinken ablehnen. Es gibt eine Zeit zum Leben und eine Zeit zum Sterben.

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025

Geschichte

Wie Regina Jonas die erste Rabbinerin wurde

Die Ordination Ende 1935 war ein Ergebnis ihres persönlichen Kampfes und ihrer Kompetenz – ein Überblick

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  03.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  28.11.2025

Kiddusch Lewana

Im Schein des Trabanten

Auf jeden neuen Mond sprechen Juden einen Segen. Was steckt dahinter?

von Rabbiner Dovid Gernetz  27.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025