Tradition

Von Awraham zu Ruth

Ein Fest der Freude und der Nächstenliebe: Schawuotfeier in Israel Foto: Flash 90

Wenn ich an das bevorstehende Schawuotfest denke, das an diesem Sonntagabend beginnt, dann fällt mir einer der schönsten Momente in der Geschichte von Awraham ein. Nämlich der, als unser Vorvater die unendliche Chuzpe besaß, mit Gott zu feilschen. Worum ging es da?

Gott hatte Engel zu Awraham gesandt. Sie sollten ihn aufsuchen, bevor sie nach Sodom und Gomorrha gingen, um diese beiden Städte, die sich heillos versündigt hatten, zu begutachten und zerstören zu lassen.

DISKUSSION Und Awraham, zu diesem Zeitpunkt bereits fast ein 100-Jähriger, kurz nach seiner Beschneidung, hatte nichts Besseres zu tun, als mit Gott eine Diskussion anzufangen, um diese Städte zu retten.

Was tat er? Er fragte den Ewigen, wie viele Gerechte nötig seien, um eine Stadt vor der Vernichtung zu bewahren. Und so ging die Diskussion zwischen Awraham und Gott weiter, die Zahl der Gerechten wurde immer geringer in ihrer »Verhandlung«. Doch entkommen konnte zum Schluss nur Lot mit seiner Frau und seinen Töchtern, die sich aus diesem Sündenpfuhl retteten.

Derjenige, der bei dieser Geschichte fasziniert, ist jedoch Awraham. Denn die Liebe in seinem Herzen zu seinen Mitmenschen, selbst zu solchen, die nur böse waren, schien endlos zu sein. Darum geht Awraham in die Geschichte ein als einer mit dem größten Chessed, der größten Barmherzigkeit, in seiner Seele.

GASTFREUNDSCHAFT Dieses Chessed ist zu erkennen an der Gastfreundschaft, die er jedem hat zuteilwerden lassen, und auch am Umgang mit seinen Mitmenschen. Er galt und gilt bis heute noch als großes Vorbild, und dank seiner Liebe ist dieser Funken des Chessed nie aus dem jüdischen Volk verschwunden.

Ruth kümmerte sich um Naomi bis fast zur völligen Selbstaufgabe.

Doch warum betrachten wir diese Geschichte an unserem Fest Schawuot? Was haben die Gesetze der Tora mit Chessed zu tun?

An unseren schönen Feiertagen ist es mehr denn je wichtig, zu sehen, welche Aufgaben und welche Pflichten wir haben. Darum ist Schawuot immer eine gute Möglichkeit, zu reflektieren und sich auf die jüdische Geschichte zu besinnen. Und ich denke, es ist deshalb kein Zufall, dass dieser Feiertag mit dem Buch Ruth verknüpft ist, das wir an Schawuot in der Synagoge lesen. Denn Ruth ist eine Nachkommin von Lot. Und obwohl bei allen Nachkommen von Lot die Chessed verloren gegangen zu sein scheint, ist sie bei Ruth wiederaufgeflammt.

Ruth, eine Moabiterin, eine vermeidliche Erzfeindin Israels aus einem Volk, mit deren Abkömmlingen ein Israelit niemals eine Verbindung eingehen durfte, wird zur Urmutter von König David. Wie konnte das sein?

WARNUNG Die Tora warnt uns vor Moabitern und Ammonitern. Sie waren der Legende nach schlimmer als die Ägypter und alle unsere anderen Peiniger. Sie verwehrten uns in der Wüste ihre Gastfreundschaft, und durch ihren Frevel ist es uns für immer verboten, mit diesen Völkern einen Bund einzugehen.

Und doch wurde eine von ihnen die Urgroßmutter unseres großen Königs David. Denn in ihrer Eigenschaft besaß sie etwas, was dieses Gesetz des Ewigen umgehen konnte: Sie besaß Chessed.

Eine unserer wichtigsten Aufgaben war und ist es im Judentum, Gott in seinen Eigenschaften nachzueifern. Wenn wir sehen, wie Er sich um uns gekümmert hat in der Wüste, wie es uns an nichts mangelte, so versuchen wir, Seinem Beispiel zu folgen.

Die Übergabe der Tora am Sinai ist ein Grundstein des Judentums.

Und diesem Beispiel folgte auch Ruth. Um ihrer Schwiegermutter Liebe entgegenzubringen, war sie bereit, alles aufzugeben: ihre Herkunft, ihre Sicherheit, ihre gewohnte Umgebung und ihre Religion. Sie kümmerte sich um Naomi – und das fast bis zur vollkommenen Selbstaufgabe.

Es heißt, dass die Welt auf Chessed, auf Barmherzigkeit und Nächstenliebe, aufgebaut ist. Darum ist Matan Tora, die Übergabe der Tora am Berg Sinai an das Volk Israel, ein unglaublich wichtiges Ereignis für uns und ein Grundstein des Judentums.

seele Doch ohne Chessed in unserer Seele hat sie keinen Bestand, und wir haben keine Zukunft. Denn nur durch Barmherzigkeit und Nächstenliebe werden die Gebote und Verbote in der Tora in unserer Seele verankert. Der Talmud Jeruschalmi sagt sogar, dass die Mizwot von Zedaka (Wohltätigkeit) und Chessed genauso wichtig sind wie alle anderen Mizwot der Tora zusammen.

Zur besseren Verständlichkeit ein kleiner Midrasch über Schimon Bar Jochai, der uns Folgendes erzählt: Schimon Bar Jochai hat sich vor rund 2000 Jahren mit seinem Sohn in einer Höhle vor den Römern versteckt. Nach mehr als einem Jahrzehnt des Studiums unserer mündlichen und schriftlichen Tora verließ er mit seinem Sohn jene Höhle.

Doch das Studium hatte seinen Geist verändert, und er betrachtete die Welt jetzt durch die harten Augen des Gesetzes, das er in seinem Versteck gelernt hatte. Und so beschreibt uns der Midrasch: Wohin seine oder die Augen seines Sohnes auch blickten – sie zerstörten ihre Umgebung, da nichts, betrachtet durch das Gesetz der Tora, Bestand haben konnte.

STIMME Dies zwang Gott, den Allmächtigen, zum Handeln. Und so hörten Vater und Sohn eine Stimme aus dem Himmel, die ihnen verbot, die Erde durch ihren scharfen Blick zu vernichten. Schimon Bar Jochai und sein Sohn hatten durch ihr langes Studium einen Teil ihrer Chessed eingebüßt.

Doch durch die Nächstenliebe kann viel mehr gewonnen werden, als man sich denkt. Und darum ist Ruth dafür ein so perfektes Beispiel. Sie schafft durch Chessed das Unmögliche: eine wahre Tochter Israels zu werden. Und so reihte sie sich durch ihr Verdienst in die Ahnenreihe unseres Königs David ein, der es in seiner Zeit geschafft hat, ein mächtiges Israel aufzubauen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

Schemot

Augenmaß des Anführers

Mosche lehrt uns, dass Barmherzigkeit nicht absolut sein darf

von Rabbiner Avichai Apel  17.01.2025

Talmudisches

Intimität

Was unsere Weisen über den Respekt gegenüber der Privatsphäre eines Ehepaars lehrten

von Rabbiner Avraham Radbil  17.01.2025

Perspektive

Toda raba!

Glücklich wird, wer dankbar ist. Das wussten schon die alten Rabbiner – und dies bestätigen auch moderne Studien

von Daniel Neumann  17.01.2025

Berlin

Chabad braucht größere Synagoge

»Wir hoffen auch auf die Unterstützung des Senats«, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 15.01.2025

Ethik

Eigenständig handeln

Unsere Verstorbenen können ein Vorbild sein, an dem wir uns orientieren. Doch Entscheidungen müssen wir selbst treffen – und verantworten

von Rabbinerin Yael Deusel  10.01.2025

Talmudisches

Greise und Gelehrte

Was unsere Weisen über das Alter lehrten

von Yizhak Ahren  10.01.2025

Zauberwürfel

Knobeln am Ruhetag?

Der beliebte Rubikʼs Cube ist 50 Jahre alt geworden – und hat sogar rabbinische Debatten ausgelöst

von Rabbiner Dovid Gernetz  09.01.2025

Geschichte

Das Mysterium des 9. Tewet

Im Monat nach Chanukka gab es ursprünglich mehr als nur einen Trauertag. Seine Herkunft ist bis heute ungeklärt

von Rabbiner Avraham Radbil  09.01.2025

Wajigasch

Nach Art der Jischmaeliten

Was Jizchaks Bruder mit dem Pessachlamm zu tun hat

von Gabriel Umarov  03.01.2025