Tischa Be Aw

Vergesst es nicht!

9. Aw: Der Tag der Tempelzerstörung Foto: dpa

Tischa Be Aw

Vergesst es nicht!

Der Tempel bleibt in Schutt und Asche, weil wir keine Lehre aus der Geschichte gezogen haben

von Yehuda Shamis  12.07.2010 16:49 Uhr

Es war ein heißer Sommertag im Heiligen Land, an dem die römischen Legionen den langen und mühsamen Kämpfen um Jerusalem ein Ende setzten und den Tempel, das letzte Bollwerk der Aufständischen, verbrannten. Unzählige Menschen ausgerottet, Abertausende in die Sklaverei verkauft, Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht. Die gewöhnlichen Maßnahmen der römischen Weltmacht in einer kleinen unbedeutenden Südprovinz des Reiches nach einem unverständlich langen Aufruhr. Nun soll hier für alle Zeiten Ruhe sein.

Es ist langer her, seit sich diese tragischen Ereignisse abgespielt haben, doch wir vergessen sie nicht. Das Beweinen der Zerstörung des Tempels am 9. Tag des Monats Aw (diesmal am kommenden Dienstag, 20. Juli), stammt nicht aus einer nostalgischen Sehnsucht nach Pracht und Wohlstand der Vergangenheit. Es ist vielmehr die gefühlte Diskrepanz zwischen der eigenen Berufung, »das Königtum der Priester und das heilige Volk« zu sein, und der Realität der Tatsachen, die durch das Prisma der Ereignisse dieses Tages viel deutlicher wird.

Ursachen Maimonides schreibt (Gesetze der Fasttage 5:1), dass Sinn und Zweck der Fasttage darin besteht, dass wir die Ursachen der Tragödien erforschen, sie auf unsere Realität projizieren und auf Tatbestand prüfen. Es ist keine Überraschung, dass der Talmud beschließt: Die Generation, in der der Tempel nicht wiederaufgebaut wurde, trägt die Mitschuld an seiner Zerstörung. Deutlicher kann es nicht sein: wer die Lehre der Geschichte nicht lernt, wird unausweichlich dieselben Fehler wiederholen!

Doch um welche Geschichte geht es? Die Kommentatoren verweisen auf die biblische Begebenheit der Kundschafter, die mit einem negativen Bericht aus dem gelobten Land zurückkehrten. Daraufhin weinte das Volk und entschied, dass es besser wäre, nach Ägypten zurückzukehren. (4. Buch Moses 14,1). Das Volk, das den glorreichen Auszug aus Ägypten und die monumentale Sinai-Offenbarung erlebt hatte, beweinte nun die Botschaft, dass angeblich das gelobte Land nicht zu erobern sei? Nein, die Angst vor der Freiheit und vor der Verantwortung für das eigene Leben war der wirkliche Grund für dieses Verhalten. Über diese bis in unsere Zeit bestehende Auffassung heißt es im Traktat Taanit (29a): »G’tt sagte ihnen: Ihr habt umsonst geweint, und ich werde euch für Generationen zu weinen geben«. Dieser Tag war der 9. Aw – der Tag der Zerstörung des ersten und zweiten Tempels.

Verantwortung Dieser Fehler, der algorithmisch in die geistige Substanz des Volkes an diesem Tag eingraviert wurde, verlor bis zum tragischen Tag der Tempelzerstörung nicht an Bedeutung. Es ist bekannt, dass der hauptsächliche Grund des Niederganges unbegründeter Hass war. Der Hass gegenüber anderen Menschen ist immer auch eine Erklärung des eigenen Unwillens, Verantwortung für das eigene Leben zu tragen. Er ist immer ein Zeugnis der Schwäche. Denn es ist viel einfacher, mit dem Finger auf andere zu zeigen, ihnen die Schuld in die Schuhe zu schieben, als Verantwortung zu tragen. Deshalb der gegenseitige Hass. Ein Phänomen, das auch uns so schmerzhaft bekannt vorkommt. Und deswegen bleibt der Tempel in Schutt und Asche. Und wir tragen die Mitschuld daran.

Es war ein heißer Sommertag, an dem die Zeit zum Stillstand gekommen ist. Und ein unauffälliger Beobachter auf einem der zahlreichen Hügel, die Jerusalem umgeben, würde staunen, wie ein Paradies auf Erden zugrunde geht, weil die Menschen vor den eignen unbegründeten Ängsten – und in dessen Folge in unbegründetem Hass – kapitulierten. Denn sie haben die Lehre aus der Geschichte wieder vergessen.

Und er würde sich weinend ausmalen, wie die Menschen an diesem Tag, als die Sonne zum Horizont hinuntersank, sich in den Schatten der Olivenbäume niedersetzen konnten, um den Tag der Besinnung auszukosten und sich auf eine neue Stufe des inneren Fortschritts vorzubereiten, die der nächste Tag mit sich bringen würde. Denn sie haben die Lehre aus der Geschichte wieder vergessen. Doch die Zeit stand still, und der nächste Tag wurde im Blut ertränkt. Die Leute haben sich selbst durch die Vergesslichkeit des Lebens ihres Glücks und ihrer Harmonie beraubt. An diesem heißen Sommertag.

Der Autor ist Rabbinerstudent an der »Yeshivas Beis Zion« in Berlin.

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025