Auserwählung

Verantwortung zum Handeln

»Könntest Du nicht ab und zu jemand anderen erwählen?«, fragte Tevje, der Milchmann (hier: Gustav Peter Wöhler bei der Aufführung des Erfolgsmusicals bei den diesjährigen Schlossfestspielen in Schwerin). Foto: dpa

Es gibt wohl kaum ein anderes Konzept in der Hebräischen Bibel, das uns Juden im Lauf der Geschichte so viel Kraft, so viel Mut und so viel Trost gespendet hat, wie die Vorstellung, von G’tt auserwählt worden zu sein. Und es gibt gleichzeitig nur wenige andere Überzeugungen, die zu allen Zeiten so viel Hohn, Ablehnung und Hass erzeugt haben wie eben dieser Glaube.

Überheblichkeit, Rassismus und Chauvinismus sind nur einige der Vorwürfe, die wir für diese Anschauung geerntet haben. Doch was hat es mit der Auserwählung eigentlich auf sich? Die entscheidenden Passagen stehen im 2. Buch Mose, genau an der Schnittstelle zweier fundamentaler Ereignisse: einerseits dem Auszug der Israeliten aus Ägypten und andererseits dem Bundesschluss nach der Offenbarung des Ewigen am Berg Sinai.

Phase In dieser ausschlaggebenden Phase, in welcher der Ewige Seine Macht für alle erkennbar demonstriert und sich den Israeliten als persönlicher und fürsorglicher G’tt zu erkennen gegeben hat, formuliert Er die entscheidenden Sätze: »Ihr habt gesehen, was Ich an Ägypten getan, und wie Ich euch auf Adlerflügeln getragen und euch zu Mir gebracht habe.

Und nun, wenn ihr höret auf Meine Stimme und Meinen Bund haltet: so sollt ihr Mein besonderes Eigentum unter allen Völkern sein, denn Mein ist die ganze Erde; ihr aber sollt Mir ein Königreich von Priestern sein und ein heiliges Volk« (2. Buch Mose 19, 4–6).

Schatz Nach der kurzen Einleitung also, in der G’tt nochmals betont, was Er für das Volk getan und wie fürsorglich Er es begleitet hat, folgt die Auserwählung. Gekleidet in wenige Worte, die sich kaum ins Deutsche übersetzen lassen.

Ausgedrückt als »besonderes Eigentum unter allen Völkern«. Oder anders gesagt: als besonders kostbarer Schatz, als besonders behüteter Eigenbesitz.
Doch was ist damit genau gesagt? Was bedeutet die Auserwählung? Und haben die Kritiker denn nicht Recht, wenn sie uns den Glauben an eine Bevorzugung gegenüber allen anderen unterstellen? Warum muss G’tt überhaupt irgendjemanden oder irgendein Volk erwählen, und warum ausgerechnet die Juden? Ist das nicht ungerecht?

Tora Zunächst macht die Tora mit wenigen Worten unmissverständlich klar, dass es G’ttes alleiniges Recht war, das Volk Israel zu erwählen. Ob einem das nun gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Es ist nun einmal so, wie es ist.

Der Ewige hat als Herrscher der Welt, als Eigentümer der Erde diese Entscheidung getroffen, ohne vorher ein demokratisches Votum aller anderen Völker einzuholen. Und damit hat es sich. Warum Er dabei ausgerechnet das Volk Israel ausgeguckt hat, bleibt ein ewiges Rätsel.

Israel ist G’ttes besonderes Eigentum unter den Völkern.

Wer nun aber glaubt, aus diesem Umstand eine Überlegenheit, eine Besserstellung oder eine Bevorzugung der Juden gegenüber allen anderen Völkern herauslesen zu können, der ist auf dem Holzweg. Denn dafür gibt es nicht den leisesten Hinweis. Ganz im Gegenteil.

Im 5. Buch Mose etwa heißt es: »Nicht weil ihr mehr seid denn alle Völker, hat der Ewige euch begehrt und euch erkoren; denn ihr seid die wenigsten von allen Völkern« (5. Buch Mose 7,7).
Und nach dem Propheten Amos spricht G’tt: »Seid ihr Israeliten Mir nicht wie die Söhne der Äthiopier? Habe Ich nicht Israel aus dem Land Ägypten heraufgebracht und die Philister aus Kaftor?« (Amos 7,7).

Sklaverei Außerdem betont die Tora immer wieder die Tatsache, dass die Kinder Israels aus der Sklaverei befreit werden mussten. Sie waren also nicht nur selbst nicht in der Lage, ihrem Elend ein Ende zu setzen, sondern sie zählten als Sklaven auch zum Bodensatz der damaligen Gesellschaft. Das spricht zwar dafür, dass G’tt mit der Erwählung der Juden klar machen wollte, dass er sich um die Benachteiligten, die Verstoßenen, die Abgehängten kümmert. Es lässt aber keinesfalls eine Privilegierung aufgrund irgendwelcher Eigenschaften vermuten, die nur die Juden in sich vereinigen.

Zugegeben: Es gab zu allen Zeiten auch innerhalb des Judentums Stimmen, die in der Erwählung eine Adelung und eine hervorgehobene Stellung erkennen wollten. Sei es, um in feindseliger Umgebung ein wenig Hoffnung zu bewahren, oder sei es, um ausgegrenzten und gedemütigten Kindern das Gefühl zu geben, zumindest von G’tt mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht worden zu sein. Oder, um sich einen Rest von Selbstwertgefühl, von Stolz, von Selbstachtung in einer Welt zu bewahren, die Juden mit Verachtung und Hass betrachtete.

Verfolgung Das ist mit Blick auf die endlose Verfolgungsgeschichte zwar durchaus verständlich. Gleichzeitig ist aber wichtig festzuhalten, dass dies Reflexe auf Erniedrigung, Herabwürdigung und Hass waren und nicht umgekehrt. Es waren also Reaktionen, die auf feindselige Aktionen folgten.

Schließlich sind wir Juden auch nur Menschen. Mit allen Schwächen und Fehlern.

Was aber bedeutet die Erwählung denn nun eigentlich? Genau genommen geht es um die Übernahme einer riesigen Verantwortung. Es geht darum, als Königreich von Priestern, als heiliges Volk, die Verpflichtungen aus dem g’ttlichen Bund zu erfüllen. Sprich: die Welt unter der Herrschaft G’ttes zu reparieren. Sie in einer Partnerschaft mit dem Ewigen zu verbessern.

Wie das funktionieren soll? Etwa durch die Verbreitung und Verwirklichung der in dem Bund, in der Tora, in den 10 Geboten enthaltenen universellen Ideen. Durch das Streben, die Menschheit vom ethischen Monotheismus zu überzeugen, also der Vorstellung des einen und einzigen G’ttes, dessen vordringlichstes Anliegen das ethische und moralische Verhalten der Menschen ist. Eine revolutionäre Idee, die sich in umfassender Menschenwürde, der Heiligkeit des Lebens, dem Schutz Benachteiligter, der Herrschaft des Rechts, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Freiheit und Frieden entfaltet.

Gesetz Es ist eine Mission, die wir Juden vor gut 3300 Jahren auf uns genommen haben und die nach wie vor noch lange nicht erfüllt ist. Was zu einem nicht unerheblichen Teil an uns selbst liegt. Also an unserer Unwilligkeit oder Unfähigkeit, uns dem Leben im Dienste G’ttes und Seines Gesetzes vollständig zu verschreiben.

Schließlich sind wir Juden auch nur Menschen. Mit allen Schwächen und Fehlern. Dennoch: Unsere Ziele sind universell. Unsere Ambitionen außergewöhnlich. Unsere Mission zeitlos. Sie begann mit Awraham, der den Auftrag erhielt, in die Welt hinauszugehen und den Menschen ein Segen zu sein, indem er nach Recht und Gerechtigkeit strebe. Und sie hat seither nichts an Bedeutung eingebüßt.

Solch eine Aufgabe kann natürlich nicht jeder Einzelne aufs Geratewohl erfüllen. Es braucht einen Kodex, der die wesentlichen Ideen vermittelt. Es braucht ein Gesetz, dass den Rahmen festlegt. Und es braucht Ge- und Verbote, die den Weg weisen.

Wir sollen die Welt in einer Partnerschaft mit dem Ewigen verbessern.

Warum aber sind so schrecklich viele Gesetze dafür nötig? Hätten denn nicht auch weniger Vorschriften gereicht? Nein. Denn das Ziel ist es, ein heiliges Volk zu schaffen. Ein Königreich von Priestern, das einerseits beispielgebend wirkt und andererseits fähig und in der Lage ist, den Versuchungen des Lebens zu widerstehen, den Fallstricken des Alltags zu entkommen.

Und dafür braucht es wiederum ein ganzes Arsenal von charakterbildenden Ge- und Verboten. Moralische ebenso wie rituelle Vorschriften. Zumal das Judentum nicht missioniert, oder genauer: nicht daran interessiert ist, dass alle Menschen Juden werden.

Monotheismus Umso wichtiger waren für die Verbreitung der monotheistischen Idee die jüngeren Geschwister der Juden, nämlich die Christen und die Muslime. Wobei: Diese waren zwar deutlich erfolgreicher als wir Juden. Gleichzeitig hatten sie aber auch das Ziel, alle Menschen für ihre jeweilige Religion zu gewinnen. Und zwar um jeden Preis. Selbst unter Einsatz von Zwang und Gewalt.

Der Weg und die Mittel des Judentums hingegen waren andere. Rabbiner Shmuley Boteach schreibt dazu in dem Buch The Modern Guide to Judaism sinngemäß: Da Juden geheißen sind, das Licht G’ttes und den ethischen Monotheismus zu verbreiten, ohne gleichzeitig zu missionieren und ohne Nichtjuden zu konvertieren, brauchen sie ein stärkeres spirituelles Arsenal, um sich von der oftmals feindlichen Umgebung, in der sie leben, erfolgreich absetzen zu können.

Man stelle sich ein Haus im Winter vor: Damit die Heizungen in den Wohnräumen angenehme 20 Grad liefern können, muss der Boiler, der das heiße Wasser generiert, eine Temperatur von 50 Grad erreichen. Dies gelte im übertragenen Sinne auch für die Juden.

Verpflichtung Die Erwählung kommt also mit einem ganzen Bündel an Verpflichtungen daher. Mit einer riesigen Verantwortung. Einer enormen Last. Und gleichzeitig mit einem erheblichen Vertrauensvorschuss G’ttes. Hoffen wir, dass wir uns dieses Vertrauens würdig erweisen.

Tevje, der Milchmann, bringt es in dem Musical Anatevka jedenfalls auf den Punkt, als er mit einem Blick nach oben sagt: »Ich weiß, ich weiß. Wir sind das auserwählte Volk. Aber könntest Du nicht ab und zu jemand anderen erwählen?« Und dann macht er sich auf den Weg, um einen Fremden zum Abendessen einzuladen.

Der Autor ist Direktor des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen.

Lech Lecha

»Und du sollst ein Segen sein«

Die Tora verpflichtet jeden Einzelnen von uns, in der Gesellschaft zu Wachstum und Wohlstand beizutragen

von Yonatan Amrani  08.11.2024

Talmudisches

Planeten

Die Sterne und die Himmelskörper haben Funktionen – das wussten schon unsere Weisen

von Chajm Guski  08.11.2024

Heldentum

Von der Größe, sich nicht zu groß zu machen

Um ein jüdischer Held zu werden, braucht es andere Fähigkeiten, als vielleicht angenommen wird

von Rabbiner Raphael Evers  07.11.2024

Talmudisches

Datteln

Was unsere Weisen über den Verzehr der Frucht lehrten

von Rabbinerin Yael Deusel  01.11.2024

Israel

Kalman Bar ist neuer aschkenasischer Oberrabbiner

Im Vorfeld der Wahl gab es interne Machtkämpfe

 01.11.2024 Aktualisiert

Noach

Die Kraft des Gebets

Hätte sich Noach intensiver an den Ewigen gewandt, wäre es vielleicht nicht zur Sintflut gekommen

von Rabbiner Avraham Radbil  31.10.2024

Essay

Die gestohlene Zeit

Wie der andauernde Krieg die Rhythmen des jüdischen Kalenders verzerrt. Beobachtungen aus Jerusalem

von Benjamin Balint  23.10.2024

Bereschit

Höhen und Tiefen

Sowohl Gut als auch Böse wohnen der Schöpfung inne und lehren uns, verantwortlich zu handeln

von Rabbinerin Yael Deusel  23.10.2024

Simchat Tora

Untrennbar verwoben

Können wir den Feiertag, an dem das Massaker begann, freudig begehen? Wir sollten sogar, meint der Autor

von Alfred Bodenheimer  23.10.2024