Standpunkt

Unverhüllte Zweifel

Nein, aber – ja, aber: Orthodoxe Juden stehen dem Burka-Verbot sehr ambivalent gegenüber. Foto: Frank Albinus

Das französische Parlament hat unlängst einen Beschluss gefasst, demzufolge es verboten ist, die Burka in der Öffentlichkeit zu tragen. Ein solches Verbot steht auch in anderen europäischen Ländern zur Diskussion. Stellt sich die Frage: Wie sollten orthodoxe Juden darauf reagieren? Antwort: mit tiefer Ambivalenz.

Burka tragende Frauen – beziehungsweise in vielen Fällen die Ehemänner und Väter, die es von ihnen verlangen – betrachten die Burka als eine religiöse Pflicht. Orthodoxe Juden waren immer aufseiten derer, die es dem Staat nicht leicht machen wollen, gesetzliche Einschränkungen der freien Religionsausübung durchzusetzen. Als das amerikanische Oberste Gericht damit begann, den Paragrafen über die Religionsfreiheit in der US-Verfassung in einer Weise zu interpretieren, die der staatlichen Gesetzgebung, solange sie sich nach außen hin neutral gab, mehr Einfluss zugestand, kämpften orthodoxe Gruppen in Washington für das Gesetz zur Wiederherstellung der Religionsfreiheit. In ihm wird der Gesetzgeber aufgefordert, das Vorliegen eines zwingenden staatlichen Interesses überzeugend darzulegen, bevor er die Ausübung religiöser Praktiken in größerem Umfang einschränkt.

Orthodoxe Bedenken sind wohl begründet. Einige europäische Länder verbieten bereits die Schechita, und es gab wiederholt Vorstöße für ein Verbot auf gesamteuropäischer Ebene. Noch besorgniserregender sind mögliche Beschränkungen der Britmila, der religiösen Beschneidung.

Was das zwingende staatliche Interesse betrifft, so ist das Burka-Verbot vielfach gerechtfertigt – etwa wenn es um die Sicherheit auf Flughäfen geht. Schließlich gab es Fälle von männlichen Terroristen, die unentdeckt entkommen konnten, weil sie eine Burka trugen. Das einfache Tragen einer Burka in der Öffentlichkeit mit einer Geldstrafe zu belegen, ist freilich schwieriger zu begründen.

Religionsausübung Einige Verteidiger des Burka-Verbots meinen, die Burka sei nach islamischen Gesetzen keine Pflicht, sondern eine moderne, von der islamischen Tradition nicht gestützte Erfindung. In einer Reihe von muslimischen Staaten ist die Burka verboten, und von der großen Mehrheit muslimischer Frauen auf der Welt wird sie nicht getragen.

Auch wenn diese Behauptungen stimmen, würde es wohl keinem orthodoxen Juden gefallen, wenn die weltliche Justiz anfinge, halachische Fragen zu behandeln und selbst darüber zu entscheiden, was die Halacha fordert und was zum Beispiel lediglich der »chumra b›alma« (religiöser Strenge) geschuldet ist.

Andere sind der Ansicht, dass Fragen der freien Religionsausübung im Fall der Burka keine Rolle spielen, da die Entscheidung, sie zu tragen, nicht von der Frau selbst getroffen wird, sondern ihr von den männlichen Verwandten als ein Instrument der sozialen Kontrolle aufgezwungen wird mit dem Ziel, sie davon abzuhalten, sich in die Gesellschaft des Gastlandes zu integrieren.

Gegenargument Doch ähnliche Argumente könnten auch gegen die traditionelle jüdische Praxis angeführt werden. Anti-Beschneidungs-Aktivisten etwa beschreiben die Britmila ausnahmslos als eine Handlung elterlichen Zwangs, denn es fehlt die Einverständniserklärung des Babys. In Israel haben einige Kinder aus charedischen Familien ihre Eltern und den Staat verklagt, die ihnen eine ausreichende weltliche Erziehung verwehrt und sie so daran gehindert hätten, sich in die größere Gesellschaft zu integrieren und ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Kurz: Einige der Argumente zugunsten des Verbotes können leicht gegen uns gekehrt werden.

Was ist die positive Seite des Burka-Verbots? Es signalisiert den Willen nicht weniger Europäer, ihre Länder vor den schlimmsten Auswirkungen eines blindwütigen Multikulturalismus zu retten und eine muslimische Übernahme zu bekämpfen. Diese Europäer bestehen darauf, dass es so etwas wie eine nationale Kultur tatsächlich gibt und dass das Bürgerrecht oder auch nur der Aufenthalt in einem Land davon abhängig gemacht werden kann, dass jemand sich dieser Kultur anschließt.

Die Volksentscheid gegen den Bau von Minaretten in der Schweiz spiegelte auf ähnliche Weise den Selbstbehauptungswillen einer nationalen Kultur. In muslimischen Ländern darf kein Gebäude einer anderen Religion höher als ein Minarett sein. In einigen muslimischen Ländern, etwa Saudi-Arabien, darf überhaupt keine Religion außer dem Islam ausgeübt werden. Das Minarett ist, nebenbei gesagt, für das muslimische Gebet keine notwendige Voraussetzung.

Europa Bis jetzt haben die Europäer passiv zugesehen, wie die muslimische Minderheit stetig größer wurde. In manchen europäischen Städten stellen Muslime inzwischen fast die Mehrheit. Mitglieder der ersten Generation muslimischer Einwanderer bemühten sich oft eifrig, sich der Kultur ihrer Gastländer anzupassen. Ihre Kinder jedoch und die jüngste Generation von Einwanderern lehnen die Integration in zunehmendem Maße ab. Man hört, manche muslimische Stadtbezirke seien für Polizisten und Feuerwehrleute zu No-go-Zonen geworden. Die Scharia, das islamische Gesetz, findet in diesen Gebieten Anwendung, und Ehrenmorde bleiben oft ungestraft.

Einige Muslime greifen zu politischer Gewalt gegen jene, die nicht genug Respekt vor ihren Empfindlichkeiten zeigen – man denke an das Attentat auf den holländischen Filmemacher Theo Van Gogh, den Mordversuch an dem Zeichner der dänischen Karikaturen und die Fatwa gegen den Schriftsteller Salman Rushdie.

Reaktion Die europäische politische Klasse reagierte auf diese Dinge oft kleinmütig und sah in der »Islamophobie« eine größere Gefahr als in der Radikalisierung und der Integrationsverweigerung der muslimischen Minderheiten. Dies führte dazu, dass sich die Muslime in ihrer Haltung bestärkt fühlen und Europa für Juden zu einem zunehmend gefährlichen Ort wird. Die Amsterdamer Polizei hat damit begonnen, Beamte als Juden zu verkleiden, um Muslime ergreifen zu können, die identifizierbare Juden überfallen. Die belgische Zeitung De Standaard berichtete, zahlreiche Juden hätten Antwerpen verlassen und seien nach Amerika, Großbritannien und Israel ausgewandert. Jacques Wenger, Direktor des Jüdischen Gemeindezentrums in Antwerpen, der auch Alija macht, prognostiziert, dass es in 50 Jahren nur noch die ultraorthodoxen Juden in Antwerpen geben wird.

All dies führt uns dahin zurück, wo wir anfingen: einem tief gefühlten Zwiespalt angesichts des Burka-Verbotes.

Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, www.jewishmediaressources.com

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