Talmudisches

Taube Ohren

Foto: Getty Images

Talmudisches

Taube Ohren

Was die Weisen über Schwerhörigkeit lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  10.06.2022 08:26 Uhr

In der Mischna (Rosch Haschana 3,8) lesen wir: »Ein Cheresch (jemand, der gehörlos und somit körperlich beeinträchtigt ist), ein Schote (jemand mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten) und ein Katan (ein Kind oder ein unmündiger Mensch) können die Gemeinschaft ihrer Verpflichtung nicht entheben.« An dieser Stelle ist damit das Blasen des Schofars an den Hohen Feiertagen gemeint.

An anderer Stelle bezieht sich die Aussage auf das Vorlesen der Megillat Esther oder auf das Vorbeten für die Gemeinde.

Diese Entscheidung der talmudischen Weisen begründet sich auf dem Prinzip, dass jemand, der zu einer Sache nicht verpflichtet ist, diese auch nicht für die Allgemeinheit erledigen kann. Das ist, nebenbei bemerkt, nicht gleichbedeutend mit einem grundsätzlichen Verbot, eine solche Tätigkeit überhaupt auszuüben.

CHERESCH Doch was genau ist ein Cheresch? In manchen Übersetzungen wird er als Taubstummer bezeichnet. Dass Taubheit allerdings nicht unbedingt verbunden sein muss mit Stummheit, war den Weisen des Talmuds durchaus bekannt. Wir sehen dies aus einer Diskussion in Chagiga 2b, wo sehr wohl unterschieden wird zwischen einem Tauben, der sprechen, aber nicht hören kann, und einem Stummen, der hören, aber nicht sprechen kann.

Freilich hing es in talmudischen Zeiten viel stärker als heute davon ab, ob eine Gehörlosigkeit angeboren oder erst im späteren Alter, nach Erlernen der Sprechfähigkeit, erworben wurde. Der Verlust des Gehörsinns, ob auf einer Seite oder beidseitig, konnte unter anderem durch einen Unfall oder auch durch eine Körperverletzung bedingt sein, zum Beispiel durch einen Schlag (Bava Kamma 98a).

Wenn man in Schabbat 109a von der verdammenswerten Hand spricht, die das Ohr berührt, ist damit also vermutlich die Hand gemeint, die dem Ohr eine entsprechende Verletzung zufügt. Aber auch durch einen Schock (Bava Kamma 91a) war das Auftreten von Gehörlosigkeit möglich. Zudem konnte die Taubheit bleibend oder vorübergehend bestehen.

RECHTE Gehörlose waren zwar von bestimmten Pflichten befreit, wie der Verpflichtung, zu den Wallfahrtsfesten zum Tempel zu kommen. Aber sie waren auch von manchen Rechten ausgeschlossen, da sie bestimmte Tätigkeiten nicht wahrnehmen konnten, wie eben für die Allgemeinheit das Schofar zu blasen oder die Megillat Esther zu lesen, denn sie konnten ja auch nicht verpflichtet werden, das Schofarblasen oder das Verlesen der Megilla zu hören.

Wenn der Cheresch wie in der eingangs zitierten Mischna nun zusammen mit dem Schoten und dem Katan genannt wurde, könnte man meinen, dass er womöglich als nicht zurechnungsfähig betrachtet wurde. Dem widerspricht aber die Gemara in Chagiga 2b. Die Verbindung zwischen den drei Personengruppen liegt zwar in einem Problem des Verstehens, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen. Wenn wir also in Bava Kamma lesen, dass ein tauber Mensch, durch den ein Brand verursacht wird, nicht haftbar gemacht werden könne, liegt das keineswegs in einer etwaigen mangelnden intellektuellen Einsicht begründet, sondern in der Einschränkung seiner akustischen Wahrnehmung. Er kann zum Beispiel eine zugerufene Warnung oder das Geräusch eines um sich greifenden Feuers nicht hören. War die Hörstörung vorübergehend, so wurden nach deren Abklingen entsprechende Einschränkungen für die betreffende Person wieder aufgehoben.

Verboten ist es, einer tauben Person zu fluchen, so wie es verboten ist, einen Stolperstein vor einen Blinden zu legen (Sanhedrin 66a). Und in Bava Kamma 87a heißt es, der Zusammenstoß mit einem Tauben sei von Nachteil, denn wenn jemand ihn dabei verletze, gelte er als schuldig, wenn er aber durch den Tauben verletzt werde, sei dieser frei von Schuld.
Dies mahnt zu Achtung und Rücksichtnahme gegenüber Menschen mit einer Beeinträchtigung und unterstreicht ihre Rechte.

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025