Talmudisches

Stillen

Foto: Getty Images

Wenn die Weltgesundheitsorganisation eine Stilldauer von mindestens zwei Jahren empfiehlt, deckt sich dies bemerkenswerter Weise mit den Empfehlungen des Talmuds. Diese Übereinstimmung zeigt, dass unsere Weisen bereits vor fast 2000 Jahren wussten, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt.

Der Talmud betrachtet das Stillen als gottgegebene Aufgabe. In Berachot (31b) interpretiert Rabbi Elazar Hannahs Gebet: »Herr der Welt, von allem, was Du an einer Frau geschaffen hast, hast Du nichts umsonst geschaffen … Brüste, mit denen zu stillen. Gib mir einen Sohn, dass ich ihn mit ihnen stillen kann.«

Für die Rabbinen ist es undenkbar, dass eine Frau nicht stillen würde. Im Traktat Ketubot (60ab) empfehlen die Gelehrten eine Stilldauer von 24 Monaten, Rabbi Jehoschua sogar von vier bis fünf Jahren. Wird vor dem zweiten Lebensjahr abgestillt, befürchten sie gesundheitliche Schäden für das Kind. Bemerkenswert sind die talmudischen Schutzbestimmungen für stillende Mütter. Die Halacha kategorisiert sie rechtlich als »krank« – nicht im pathologischen Sinne, sondern um ihnen besonderen Schutz zu gewähren (Ketubot 65a). So erhalten sie zum Beispiel erweiterte Nahrungsrationen und haben eine reduzierte Arbeitsbelastung (Ketubot 59b-60a).

Ernährungsweise und Arbeitsbelastung haben Auswirkungen auf Geschmack, Qualität und Menge der Milch

Die Rabbinen erkannten also bereits, dass Ernährungsweise und Arbeitsbelastung Auswirkungen auf Geschmack, Qualität und Menge der Milch haben. Diese Erkenntnis ist heute auch im deutschen Arbeitsrecht verankert: Mütter haben Anspruch auf Stillzeiten und werden dafür freigestellt.

Die Halacha erlaubt stillenden Müttern sogar Empfängnisverhütung. In Jevamot (12b) diskutieren die Rabbinen den Moch – ein Pessarium aus weichem Stoff – für stillende Mütter. Eine erneute Schwangerschaft würde die Milchqualität beeinträchtigen und das stillende Kind gefährden. Zum Schutz des Kindes war Empfängnisverhütung nicht nur erlaubt, sondern nach manchen Gelehrten sogar geboten.

Der Talmud betrachtet das Stillen auch spirituell. In Joma (75a) wird das Manna – die himmlische Nahrung, die Gott den Israeliten während der 40 Jahre in der Wüste gab – mit Muttermilch verglichen: Wie ein Baby verschiedene Geschmäcker aus der Muttermilch schmeckt, so konnte das Manna jeden gewünschten Geschmack annehmen. Diese Metapher stellt Gott als stillende Mutter dar, die die Kinder Israels nährt.

Die Muttermilch kommt aus der Nähe des Verstandes und der Seele

In Berachot 10a betont Rabbi Abahu die besondere Lage der menschlichen Brüste nahe dem Herzen, dem Sitz der Einsicht (Bina). Die Muttermilch kommt also aus der Nähe des Verstandes und der Seele. Die außergewöhnliche Wichtigkeit des Stillens zeigt sich auch in Schabbat 53b. Ein Mann, dessen Frau starb und der kein Geld für eine Amme hatte, entwickelte durch ein Wunder Brüste und stillte sein Kind. Heutzutage weiß die moderne Medizin, dass männliches Stillen biologisch möglich ist.

Forschungen bestätigen die Wirksamkeit dieser talmudischen Haltung: Jüdische Frauen stillen überdurchschnittlich häufig und lange. Die religiöse Verwurzelung erweist sich als entscheidender Faktor für erfolgreiches Langzeitstillen. Die talmudische Betrachtung des Stillens als religiöse Verpflichtung und die Betonung ihrer Wichtigkeit macht es zu einer Gemeinschaftsaufgabe. Wenn die Tradition 24 Monate empfiehlt, sind wir als jüdische Gemeinschaft dazu angehalten, Räume und Strukturen zu schaffen, um Stillende zu unterstützen und anzuregen, trotz des fordernden postmodernen Lebens diese Stilldauer einzuhalten. So erweist sich die talmudische Weisheit als bemerkenswert zeitgemäß.

Bereschit

Die Freiheit der Schöpfung

G’tt hat für uns die Welt erschaffen. Wir haben dadurch die Möglichkeit, sie zu verbessern

von Rabbiner Avichai Apel  17.10.2025

Talmudisches

Von Schuppen und Flossen

Was unsere Weisen über koschere Fische lehren

von Detlef David Kauschke  17.10.2025

Bracha

Ein Spruch für den König

Als der niederländische Monarch kürzlich die Amsterdamer Synagoge besuchte, musste sich unser Autor entscheiden: Sollte er als Rabbiner den uralten Segen auf einen Herrscher sprechen – oder nicht?

von Rabbiner Raphael Evers  17.10.2025

Mussar-Bewegung

Selbstdisziplin aus Litauen

Ein neues Buch veranschaulicht, wie die Lehren von Rabbiner Israel Salanter die Schoa überlebten

von Yizhak Ahren  17.10.2025

Michael Fichmann

Essay

Halt in einer haltlosen Zeit

Wenn die Welt wankt und alte Sicherheiten zerbrechen, sind es unsere Geschichte, unsere Gebete und unsere Gemeinschaft, die uns Halt geben

von Michael Fichmann  16.10.2025

Sukka

Gleich gʼttlich, gleich würdig

Warum nach dem Talmud Frauen in der Laubhütte sitzen und Segen sprechen dürfen, es aber nicht müssen

von Yizhak Ahren  06.10.2025

Chol Hamo’ed Sukkot

Dankbarkeit ohne Illusionen

Wir wissen, dass nichts von Dauer ist. Genau darin liegt die Kraft, alles zu feiern

von Rabbiner Joel Berger  06.10.2025

Tradition

Geborgen unter den Sternen

Mit dem Bau einer Sukka machen wir uns als Juden sichtbar. Umso wichtiger ist es, dass wir unseren Nachbarn erklären können, was uns die Laubhütte bedeutet

von Chajm Guski  06.10.2025

Sukkot

Fest des Vertrauens

Die Geschichte des Laubhüttenfestes zeigt, dass wir auf unserem ungewissen Weg Zuversicht brauchen

von Rabbinerin Yael Deusel  06.10.2025