Ki Tissa

»Schkojech!«

»Moses zerschmettert die Gesetzestafeln« (Rembrandt van Rijn, Öl auf Leinwand, 1659) Foto: ullstein bild - Heritage Images / Fine Art Images

Ki Tissa

»Schkojech!«

Warum es dem Ewigen gefiel, dass Mosche die Bundestafeln zerschmetterte

von Rabbiner Jaron Engelmayer  05.03.2021 09:28 Uhr

Das Beste kommt zum Schluss: Gleich einem letzten großen Trommelwirbel führt uns die Tora in ihren allerletzten Sätzen am Ende noch einmal die herrlichsten und gewaltigsten Wunder vor Augen, die den Israeliten widerfuhren.

»Für alle Zeichen und Wunder, für welche der Ewige ihn (Mosche) sandte, sie zu tun im Land Ägypten, an Pharao, an allen seinen Dienern und seinem ganzen Land auszuführen; und für die ganze starke Hand (laut Nachmanides ist damit die Spaltung des Schilfmeers gemeint), alles Große und Furchtbare (die Offenbarung G’ttes am Berg Sinai), das Mosche vor den Augen ganz Israels tat« (5. Buch Mose 34, 11–12).

Tiefpunkt Der Kommentator Raschi (1040–1105) schreibt, diese abschließenden Worte beziehen sch auf das Zerbrechen der Bundestafeln, das vor den Augen des ganzen Volkes geschah.

Wirklich? Ist das Zerbrechen der Tafeln als Reaktion auf die Sünde des Goldenen Kalbs, eines der dunkelsten Kapitel und absoluter Tiefpunkt der Wüstenwanderung, der gebührende Abschluss für die Tora?

Doch damit nicht genug: Weiter führt Raschi aus, dass Mosche die Steintafeln zu Recht zerbrochen hatte, wofür er im Nachhinein nicht nur die Zustimmung G’ttes erhielt, sondern sogar ein bekräftigendes Lob, »Jischar kochacha« – auf gut Jiddisch: »Schkojech« – als g’ttliche Reaktion auf seine mutige und beherzte Tat.

bestätigung Der Talmud (Schabbat 87a) entnimmt diese retroaktive Bestätigung einem Dia­log zwischen G’tt und Mosche aus unserem Wochenabschnitt im Anschluss an das Zerbrechen der Tafeln: »Und der Ewige sprach zu Mosche: Hau dir zwei Steintafeln wie die ersten, und Ich werde auf sie dieselben Worte schreiben wie auf die ersten, welche du zerbrochen hast« (2. Buch Mose 34,1).

Das Wort »welche« – »ascher« – transformiert sich zu »jascher«, Ausdruck der Zustimmung und Bekräftigung. Ist das nicht ungeheuerlich? Wie konnte Mosche die Tafeln zerschmettern, ohne vorher die Einwilligung G’ttes einzuholen? Schließlich handelte es sich um ein direktes Werk G’ttes, mit Seiner Inschrift (2. Buch Mose 32,16)!

Zur Verdeutlichung: Wer würde es wagen, ein einzigartiges Gemälde wie die Mona Lisa in voller Anerkennung und Wertschätzung des Kunstwerkes zu zerstören? Wie konnte Mosche davon ausgehen, dass G’tt mit dieser Tat einverstanden wäre? Noch dazu, nachdem Dieser ihm nur kurz zuvor die Tafeln ausgehändigt hatte, obwohl gleichzeitig am Fuße des Berges das Volk bereits mit dem Goldenen Kalb sündigte, und obwohl G’tt Mosche dies auch kurz vor der Übergabe der Bundestafeln mitteilte!

Hätte Mosche nicht daraus schließen müssen, dass die Tafeln dem Volk trotz der Sünde überreicht werden sollen? Wie konnte er also dieses schwere Risiko eingehen, die Tafeln möglicherweise gegen den Willen G’ttes zu zerbrechen?

Bewusstsein Wie es scheint, hat sich bei der Rückkehr vom Berg Sinai in Mosches Bewusstsein etwas verändert, das ihn entscheidend beeinflusste.

Als er und Jehoschua, der auf halbem Weg auf ihn wartete, auf das sündige Volk stoßen, wird die Situation wie folgt beschrieben: »Und er sah das Kalb und Reigentänze. Da entbrannte der Zorn Mosches, und er warf die Tafeln aus seinen Händen und zerschlug sie unten am Berg« (32,19). Es war der Anblick dieser ausgelassenen Atmosphäre, der Mosche mit Entsetzen erfüllte und in ihm auslöste, die Tafeln zu zerschlagen.

Die Bibelwissenschaftlerin Nechama Leibowitz (1905–1997) bemerkt feinsinnig, dass Mosche »das Kalb« (»HaEgel«) mit bestimmtem Artikel, aber »Reigentänze« (»Mecholot«) ohne bestimmten Artikel sah. Das Kalb war ihm schon bekannt, denn G’tt hatte ihm ja bereits oben auf dem Berg davon berichtet. Aber von den Tänzen wusste er noch nichts. Sie waren es, die seine Reaktion auslösten.

tänze Was hat es mit diesen Tänzen auf sich? Rav Chaim Yaakov Goldvicht (1924–1995), der Gründer und Leiter der Yeshivat Kerem B’Yavneh, sieht darin keine gewöhnlichen Tänze, sondern solche, die intensiv und mit innerer Begeisterung Körper und Seele berauschen und mitreißen, bis der Tanzende von innerer Entflammung ergriffen, von einer berauschenden Atmosphäre umgeben wird.

Denselben Reigentänzen sind wir am Schilfmeer begegnet (2. Buch Mose 15,20). Dort dienten sie jedoch einem positiven Zweck: G’tt mit ganzer Kraft für die wunderbare Errettung zu danken.

Als Mosche nun erkannte, mit wie viel Teilnahme, Begeisterung und Freude das Volk sündigte – ohne jedes Schamgefühl und ohne auch nur annähernd zu begreifen, wie tief sie gerade fielen –, da verstand er, wie stark die Anbetung des Kalbs bereits emotional tief in die Seelen der Sünder eingedrungen war und von ihnen Besitz ergriff.

anstrengung Einen Abfall dieses Ausmaßes wieder auszubessern, bedarf großer und langwieriger Anstrengung. Mosche erkannte, dass an diesem Punkt ein einfaches Weitermachen unmöglich war. Um neu anzusetzen, brauchte es eine tiefe Zäsur.

Diese musste mit dem Zerschmettern der Tafeln beginnen, um dem Volk ganz deutlich zu zeigen: »Seht, was ihr mit eurem Verhalten erreicht habt! Ein einzigartiges g’ttliches Artefakt habt ihr durch euer Tun zu Bruch gebracht!« Das Volk musste erschüttert und aus seiner Trance wachgerüttelt werden, um das Übel an der Wurzel zu packen und es auszureißen. Erst dann konnten die Israeliten sich erneut auf den Weg machen und jene Stufe erreichen, um die zweiten Tafeln zu empfangen.

Ähnlich erklärt Rav Ovadia di Sforno (1475–1550) die Stelle: »Als Mosche erkannte, wie sehr sie sich über ihre Verderbnis freuten, brachte ihn dies zu Wut und Verzweiflung darüber, ob sich das Verzerrte jemals wieder würde reparieren lassen und sie zur früheren Vollkommenheit zurückkehren und der Tafeln erneut würdig sein würden.«

Botschaft Eine weitere Antwort auf die Frage, wie Mosche die Steintafeln so selbstsicher zerschmettern konnte, lässt sich den eingangs erwähnten letzten Worten der Tora entnehmen: »… das Mosche vor den Augen ganz Israels tat«.

Mosche wollte dem gesamten Volk eine äußerst wesentliche Botschaft vor Augen führen: Die Bundestafeln, sinnbildlich für die Tora insgesamt, können nicht gemeinsam mit einem Goldenen Kalb existieren. Denn sie bestehen nur um ihres Inhalts willen. Wird dieser Inhalt jedoch missachtet, sind die Tafeln nur noch lebloser Stein – sinnentleert und wertlos, ohne Sonderstellung und weitere Existenzberechtigung. Es geht nicht an, mit der einen Hand die Tafeln als Zeichen des Bundes mit G’tt hochzuhalten und mit der anderen ein Goldenes Kalb zu füttern.

Unsere Weisen erfassen die Situation wie so oft meisterhaft sinnbildlich: Mosche sah, dass die Buchstaben den Tafeln entwichen und in der Luft herumflogen, sodann erst zerbrach er die Steintafeln. Nicht das Material macht die Besonderheit und Einzigartigkeit der Bundestafeln aus, sondern dessen geistiger Inhalt und die Erfüllung seiner Worte im Herzen und im Handeln einer jeden jüdischen Person. Sie tragen die Materie und beseelen sie. Das ist die abschließende Botschaft der Tora – »vor den Augen ganz Jisraels« (Pirke deRabbi Elieser 45, Jeruschalmi Taanit 23a).

Der Autor ist Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.


inhalt
Zu Beginn des Wochenabschnitts Ki Tissa wird Mosche damit beauftragt, die wehrfähigen Männer zu zählen. Es folgen Anordnungen für das Stiftszelt. Die Gesetze des Schabbats werden mitgeteilt, und es wird die Bedeutung des Ruhetags als Bund zwischen dem Ewigen und Israel betont. Der Ewige gibt Mosche zwei Steintafeln, mit denen er ins Lager der Israeliten zurückkehrt. Dort haben sich die Wartenden in der Zwischenzeit ein Goldenes Kalb gegossen, dem sie Opfer darbringen. Im Zorn darüber zerbricht Mosche die Steintafeln, und der Ewige bestraft die Israeliten mit einer Plage. Später steigt Mosche auf den Berg und erhält neue Bundestafeln.
2. Buch Mose 30,11 – 34,35

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