Standpunkt

Säkulare Herausforderung

Schülerinnen beim Unterricht in Israel Foto: Flash 90

»Lebendiger Religionsunterricht – Geist des lebendigen Judentums« – zu diesem Thema habe ich in der vergangenen Woche an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg gesprochen. Anlass war ein Workshop bei der Tagung der jüdischen Religions- und Hebräischlehrer in Deutschland.

Die Fragestellung lautete: Wie kann sich der jüdische Religionsunterricht in Deutschland in einer sich rasant säkularisierenden Welt positionieren, um den Schülerinnen und Schülern ein realitätsnahes und gesellschaftsrelevantes Bild eines lebendigen Judentums auf eine sinnvolle didaktische Weise zu vermitteln?

Dies ist meiner Ansicht nach eine existenziell wichtige Frage. Denn ungeachtet der Tatsache, dass die Mehrheit der Juden in Deutschland und weltweit einen säkularen Lebensstil pflegt, wird das Säkulare im Religionsunterricht oft lediglich am Rande zur Kenntnis genommen.

Diesem pädagogischen Problem haben wir uns gestellt, indem wir verschiedene geschichtliche Modelle aus der Fülle der jüdischen Gedankenwelt erörterten, bei denen sich das religiöse jüdische Bewusstsein mit einer säkularen Weltsicht auseinandersetzt und dieser ihre rechtmäßige Stellung einzuräumen sucht.

Didaktik So kann jüdischen Religionslehrerinnen und -lehrern die didaktische Vorgehensweise nahegebracht werden, das Bild eines lebendigen Judentums aufzuzeigen, das den weltlichen Entwicklungen schon immer souverän zu begegnen wusste.

Der Workshop in Heidelberg orientierte sich exemplarisch am Kernlehrplan für Jüdische Religionslehre der Sekundarstufe II in Nordrhein-Westfalen mit dessen Inhaltsfeldern »Jüdische Aufklärung und ihre Folgen« sowie »Spannungsfeld von Tradition und säkularer Welt«.

Dabei ging es nicht nur um neuzeitliche Ausprägungen des Judentums – wie etwa der Haskala, der Wissenschaft des Judentums sowie des Zionismus –, sondern auch um antike Strömungen.

Am historischen Beispiel des jüdisch-hellenistischen Schriftexegeten der Zeitenwende, Philon von Alexandria, ließ sich dieser Punkt recht gut veranschaulichen. In seiner Genesis-Allegorese über Abrahams Wanderung unterzieht Philon manche jüdische Alexandriner seiner Zeit der Kritik, und zwar deshalb, weil sie die konkreten jüdischen Gesetze und Zeremonien zugunsten eines höheren symbolischen Sinnes »leichtsinnig vernachlässigen«.

Ein lebendiges Judentum weiß weltlichen Entwicklungen souverän zu begegnen.

Philon Philon zufolge glauben sie so zu leben, »als wären sie in der Einsamkeit für sich, oder als wären sie körperlose Seelen geworden, als wüssten sie nichts von Stadt, Dorf, Haus, überhaupt von menschlicher Gesellschaft, sehen über das hinweg, was die Allgemeinheit billigt«.

Philon, der selbst nachhaltig vom hellenistischen Gedankengut geprägt war, plädiert für die Unaufhebbarkeit der wörtlichen göttlichen Satzungen. Er kommt zu dem Schluss, dass beide Sinnstufen des einem dualistisch aufgegliederten Organismus entsprechenden Pentateuchs zu beachten sind, genau »wie man nun für den Körper, der ja die Wohnstätte der Seele ist, Vorsorge trifft, so muß man auch auf den Wortlaut der Gesetze achten«.

Etliche jüdische Aufklärer und Anhänger der Wissenschaft des Judentums zogen diesen Passus als einen vorbildlichen jüdischen Umgang mit der Herausforderung der modernen weltlichen Entwicklungen heran, der den traditionellen Weg der goldenen Mitte aufrechtzuerhalten weiß.

Mendelssohn Ergänzend dazu ist auch das Werk von Moses Mendelssohn (1729–1786), Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1782), aufschlussreich. Thematisiert wird dabei vornehmlich Mendelssohns dortiges Schlüsselkonzept des jüdischen Zeremonialgesetzes als »eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist und ohne Unterlaß zu Betrachtungen erweckt, und zum mündlichen Unterrichte Anlaß und Gelegenheit giebt«.

Dabei möchte er ein antidogmatisches, tatkräftiges Judentum entwerfen, das sich nicht einfach auf den »toten Buchstaben« zurückführen lässt, sondern sich vielmehr als geistig erweist und gerade darum »mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände gleichen Schritt halten« kann.

Aufgrund seiner praxisbezogenen Ausrichtung ist dieses Mendelssohnsche Verständnis des Judentums mit weltlichen Fortschritten und gesellschaftsorientierten Kontexten stets vereinbar.

Wessely Daraufhin kamen wir auf Hartwig Wesselys (1725–1805) religionspädagogische, provokative Abhandlung, Worte des Friedens und der Wahrheit zu sprechen.

Im jüdischen Selbstverständnis ist eine Verschiebung der Wahrnehmung nötig.

Die Frage lautete, wie Wessely die Menschenlehre (»Torat Adam«), das heißt, die säkularen Wissensbereiche, einbaut in das damals herkömmliche jüdische Bildungsprogramm, bei dem alles auf die Gotteslehre (Torat Haschem), das heißt, die jüdisch-religiösen Wissensbereiche, ankommt.

Krochmal Abschließend stellte der Workshop Nachman Krochmals (1785–1840) Verschränkung zwischen der säkularen Weltgeschichte und dem allumfassenden Geist Israels in den Vordergrund und analysierte seinen innovativen wissenschaftlichen Ansatz bei der Erforschung des Judentums.

Schlussendlich soll den jüdischen Religionslehrerinnen und -lehrern demons­triert werden, wie sich das Phänomen der Säkularisierung in den Inhalten des lebendigen jüdischen Bewusstseins in seinen mannigfaltigen Erscheinungsformen allgegenwärtig niederschlägt.

Damit eine durchgreifende Umstellung in der Auffassung der jüdischen Religion seitens der christlichen deutschsprachigen Mehrheitsgesellschaft zustande kommen kann, muss zuerst eine Wahrnehmungsverschiebung im eigenen jüdischen Selbstverständnis herbeigeführt werden, bei der dem Säkularen sein angemessener Stellenwert eingeräumt wird.

Der Autor hält derzeit die Lilly-und- Michael-Sommerfreund-Gastprofessur für jüdische Kulturen an der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg inne. Er hielt seinen Workshop bei der Tagung in Heidelberg ab, die von Shila Erlbaum, Referentin für Kultus, Familie und Bildung beim Zentralrat der Juden, im Auftrag des Zentralrats organisiert wurde.

Lech Lecha

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