Wüstenwanderung

Raus aus den Kinderschuhen

Die neue Generation soll allmählich lernen, ohne Wunder auszukommen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  26.06.2017 19:31 Uhr

So mancher wächst im Laufe der Jahre in große Schuhe hinein. Foto: Thinkstock

Die neue Generation soll allmählich lernen, ohne Wunder auszukommen

von Rabbiner Jaron Engelmayer  26.06.2017 19:31 Uhr

Stillschweigend werden 38 Jahre jüdische Geschichte übersprungen. In unserem Wochenabschnitt findet der Übergang vom zweiten zum 40. und letzten Jahr der Wüstenwanderung statt. Der verhängte Generationenwechsel vollzieht sich in aller Stille in der Wüste, weit weg von anderen Kulturen und von der Zivilisation.

Ein neuer Wind weht, die üblen Begebenheiten der vergangenen Wochenabschnitte, von den Beschwerden aus dem Volk bis hin zu den Kundschaftern, die es endgültig demotivierten, sind überwunden, die Chance auf eine bessere Zukunft ist geebnet. So scheint es zumindest.

Murren Doch kaum ist das neue Zeitalter angebrochen, erfahren wir von einer weiteren üblen Geschichte. Wieder einmal ergreift das Volk die Gelegenheit, im altbekannten Ton zu murren: »Wozu habt ihr (Mosche und Aharon) die Gemeinde G’ttes in diese Wüste geführt? Um dort zu sterben, wir und unser Vieh? Und weshalb habt ihr uns aus Ägypten herausgeführt und uns an diesen schlechten Ort gebracht? (Es ist) kein Ort der Aussaat, der Feige, des Weinstocks und des Granatapfels, und auch Wasser gibt es nicht zu trinken« (4. Buch Mose 20, 4–5).

Hierauf gab G’tt Mosche und Aharon den Auftrag, vor versammelter Gemeinde zu einem bestimmten Felsen zu sprechen, sodass dieser dem Volk Wasser spende (10–11). »Und Mosche und Aharon versammelten die Gemeinde vor dem Felsen, und er sprach zu ihnen: ›Hört doch, ihr Widerspenstigen! Werden wir euch aus diesem Felsen Wasser hervorbringen?‹« Daraufhin schlug Mosche zweimal auf den Felsen, und das Wasser sprudelte aus ihm heraus. G’tt aber bestrafte Mosche und Aharon damit, dass sie nicht ins Land Israel kommen durften, denn sie hatten seinen Namen nicht geheiligt.

Interessanterweise wurde diesmal, anders als in den früheren Geschichten, nicht das Volk für sein Murren bestraft, sondern es traf Mosche und Aharon. Allerdings ist nicht klar, worin genau ihre Sünde bestand. Sie folgten der Anweisung G’ttes offenbar nicht präzise und schlugen den Felsen, wie Raschi (1040–1105) kommentiert, anstatt zu ihm zu sprechen. Doch warum war dies so gravierend und musste scheinbar unproportional schwer geahndet werden?

Maimonides, der Rambam (1135–1204), sieht Mosches Sünde darin, dass »er zum Zorn neigte und sagte: ›Hört doch, ihr Widerspenstigen!‹« Der Rambam fragt: »Soll ein Mann wie er vor der Gemeinde Israels zürnen, wo Zorn doch gar nicht angebracht ist?« (Einleitung zum Traktat Awot 4).

Nach Rambams Erklärung kann also das unbefohlene Schlagen des Felsens durchaus als Ausdruck von Mosches Zorn interpretiert werden. In den Worten G’ttes aber finden wir keine Spur von Zorn.

Tatsächlich boten die Klagen des Volkes keinen Anlass zum Zorn, denn was verlangten die Israeliten schon? Keine ägyptischen Delikatessen und kein Fleisch, wie es die vorige Generation getan hatte (4. Buch Mose 11, 4–17). Sie verlangten lediglich Wasser und die Produkte, die sie im verheißenen Land erwarteten: »ein Land des Weizens und der Gerste und des Weinstocks und der Feige und des Granatapfels« (5. Buch Mose 8,8).

Die Klage des Volkes war diesmal wirklich berechtigt, denn ohne Wasser konnte es in der Wüste nicht überleben. Deshalb ging G’tt auch direkt und ohne Zorn auf die Bitte ein und beauftragte Mosche mit der Lösung des Problems.

Einstellung Mit der Bitte um die Produkte des Landes anstelle des himmlischen Mannas kommt die grundverschiedene Einstellung dieser neuen Generation zum Ausdruck: Sie hatten es satt, in der Wüste ein unnatürliches, von täglichen Wundern begleitetes Leben zu führen. Sie sehnten sich danach, ins verheißene Land einzuziehen, seine Früchte zu essen und aus natürlichen Quellen zu trinken.

G’tt akzeptierte dieses Anliegen des Volkes und beantwortete es nicht mit einem Zornesausbruch. Nein, vielmehr lässt sich in der g’ttlichen Führung selbst erkennen, dass das Volk allmählich von den täglichen Wundern entwöhnt werden sollte. So verschwanden mit Mirjams Tod der wunderbare Brunnen, mit Aharons Hinscheiden die g’ttlichen Wolken (Talmud Rosch Haschana 3a) und mit Mosches Weggang das Manna.

Das jüdische Volk soll ohne g’ttliche Wunder auskommen und erkennen, dass es selbst das Wunder sein kann, das Instrument in der Hand G’ttes, um Seinen Plan zu vollenden, als vollwertiger Partner.

Dies erklärt auch eine andere Talmudstelle: »So wie die Morgenröte die ganze Nacht beendet, so war auch Esther (aus der Purimgeschichte) das Ende aller Wunder« (Joma 29a).

Rabbi Schmuel Edels, der Maharscha (1555–1631), stellt mit Verwunderung fest, dass die Wunder hier mit der Nacht und das letzte der Wunder mit der aufhellenden Morgenröte verglichen werden. Man hätte doch eher das Gegenteil erwartet, nämlich den Vergleich des Wunders mit Licht und dessen Fehlen mit der Dunkelheit. Aber genau hierin liegt die Botschaft des Talmuds: Die Wunder sind wie Kerzen in der Nacht, die die Dunkelheit für kurze Momente schwach beleuchten. Die Helligkeit der Morgenröte und das Licht des aufkommenden Tages jedoch durchdringen alles bis ins Letzte und vertreiben die Dunkelheit vollständig.

Natur Genauso ist es mit dem Volk Israel: Solange es »in den Kinderschuhen steckt«, ist es – wie ein hilfloses Kind auf die elterliche Fürsorge – auf Wunder angewiesen. Doch je erwachsener und selbstständiger es wird, desto eher findet es sich in der Natur zurecht. Es wird die Hand G’ttes nicht mehr durch Wunder erkennen müssen, denn es sieht sie in der tagtäglichen Führung und verbindet sich mit ihr in der g’ttlichen Fügung der Geschichte, so wie Esther durch ihr Handeln zum Werkzeug G’ttes wurde.

Mosche jedoch war für diese Generation nicht mehr der geeignete Anführer. Er war es gewohnt, das Volk erhobenen Stabes durch alle g’ttlichen Wunder zu führen. Und mit demselben Stab wollte er das nächste Wunder geschehen lassen und dem Felsen Wasser entlocken, wie schon 40 Jahre zuvor (2. Buch Mose 17, 1–6). Doch die neue Generation sollte mit der Kraft des Wortes geführt werden und G’ttes Hand in den Wegen der Natur erkennen lernen.

Von David Ben Gurion, dem Staatsgründer Israels, ist folgender Ausspruch überliefert: »Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist.« Im Sinne Esthers und des Talmuds dürfen wir dem hinzufügen: »Und wer an Wunder glaubt, wird diese durch eigenes Handeln mit realisieren.«

Der Autor ist Rabbiner in Karmiel/Israel.

Paraschat Chukat

Der Wochenabschnitt Chukat berichtet von der Asche der Roten Kuh. Sie beseitigt die Unreinheit bei Menschen, die mit Toten in Berührung gekommen sind. In der »Wildnis von Zin« stirbt Mirjam und wird begraben. Im Volk herrscht Unzufriedenheit, man wünscht sich Wasser. Mosche öffnet daraufhin eine Quelle aus einem Stein – aber nicht auf die Art und Weise, wie der Ewige es geboten hat. Mosche und Aharon erfahren, dass sie deshalb das verheißene Land nicht betreten dürfen. Erneut ist das Volk unzufrieden: Es ist des Mannas überdrüssig, und es fehlt wieder an Wasser. Doch nach der Bestrafung bereut das Volk, und es zieht gegen die Amoriter und die Bewohner Baschans in den Krieg und erobert das Land.
4. Buch Mose 19,1 – 22,1

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